Können wir überhaupt von einer allgemeinen slawischen Mythologie sprechen? Eine solche Frage ist kompliziert und nicht einfach zu beantworten, steht sie doch in einem Zusammenhang mit der Frage, ob es die Slawen als solche überhaupt gibt. Gehen wir allerdings von der Bejahung dieser These aus, dann können wir auch die Existenz einer allgemeinen slawischen Mythologie postulieren, die der Ausdifferenzierung in die drei slawischen Gruppen, Ost-West- und Südslawen und ihren mythologischen Glaubensvorstellungen vorhergehen.
Was eine allgemeine Mythologie aller Slawen betrifft, müssen wir somit nach übergreifenden, für alle zutreffenden Gemeinsamkeiten suchen. Dabei fällt es nicht leicht, derartige Kriterien zu finden. Wenn wir aus heutiger Perspektive die einzelnen slawischen Völker und Kulturen betrachten, dann stellt sich fast zwangsläufig die Frage, was sie heute eigentlich noch verbindet. Gemeinsam ist den Slawen sicher das gemeinsame Wort, „slovo“, das auch hier am Anfang stand. Zahlreichen Eigennamen slawischer Völker und Länder wie z.B. Slowaken/Slowakei, Slowenen/Slowenien, Slowinzen gehen auf dieses gemeinsame Wort zurück. Setzten wir die Existenz dieser „Proto-Slawen“ voraus, könnten wir auch auf ein gemeinsames Urslawisch bzw. Allgemeinslawische und damit auch auf eine gemeinsame slawische Mythologie schließen.
Tatsächlich können sich die Slawen auch heute noch mit Hilfe einfacher, vor allem auf die Familie und das Alltagsleben bezogener Wörter und Ausdrücke verständigen. Dem gemeinsamen slawischen Wort entgegen stand das nicht verständliche Wort der Germanen bzw. der Deutschen, die aus diesem Grunde als die „Stummen“ angesehen wurden. Dementsprechend heißt im Polnischen Deutschland „Niemcy“, also Stummland, im Russischen „Немец“ (Nemez), auf Tschechisch „Němec“ und als slawisches Lehnwort auf Ungarisch „német“. Eine andere, allerdings weniger plausible Deutung geht auf die Ableitung der Slawen – „Slavyane“, „Slawonien“ vom Wort „slava“, „slawnyj“ in der Bedeutung von „Ruhm“, „ruhmreich“ zurück.
Die einzelnen slawischen Sprachen und Kulturen entwickelten sich im Verlauf der Zeit auseinander, unterlagen fremden Einflüssen, die ihre Imagination auf unterschiedliche Art und Weise ergänzten und vervollkommneten. Davon ausgehend können wir auch auf einen gemeinsamen Ursprung einzelner vorchristlicher, slawischer Glaubensvorstellungen schließen, die ebenfalls deutlichen Veränderungen und Einflüssen unterlagen. So wurde die slawische Kosmologie, die Vorstellungen von der Erschaffung der Welt, nicht zuletzt auch mit Hilfe nichtslawischer Mythologeme aus dem germanischen, baltischen, finnougrischen und türkischsprachigen Raum ergänzt. Es fehlt allerdings auch weiterhin an entsprechenden Beweisen und Fundstücken, die die Existenz einer vorausgesetzten allgemeinslawischen Mythologie stützen oder gar beweisen würden.
Durch die Christianisierung mit Feuer und Schwert wurde ein Großteil wichtiger Beweisstücke sowie Teile der Bevölkerung ausgelöscht und ihre Kultur vernichtet. Aus diesem Grunde blieben fast nur Narrative, Überlieferungen übrig, die in mündlicher Form von einer Generation zu anderen weitergegebenen, weitererzählt wurden. Für die zu rekonstruierende gemeinslawische Mythologie ist aus diesem Grunde die Forschung weitgehend auf Überlieferungen in Chroniken, auf Bräuche, Sagen, Märchen, Lieder und Volksepen angewiesen, die lediglich einen gewissen Überblick über Spuren alter slawischer Glaubenserscheinungen und deren mögliche Beziehungen zu anderer Mythologien ermöglichen. Es gibt nur sehr wenige Nachrichten über den Glauben der „Heiden“, über ihre Rituale, ihren Götterkult. Beim Geschichtsschreiber Prokop (Prokopius) von Caesarea finden wir diesbezüglich diesen aus dem Jahr 562 stammenden Hinweis:
„Sie verehrten den göttlichen Blitzeschleuderer, wohl Perun, den Donnergott, ihm brachten sie Opfer dar. Anderen Gottheiten sowie Flüssen und Nymphen wurde gleichfalls Verehrung zuteil“[1].
Was die eigene Schriftlichkeit der Slawen betrifft, gibt es nach wie unterschiedliche, zum Teil polarisierende Meinungen. Eine zentrale Frage konzentriert sich dabei darauf, ob die slawischen Stämme bereits vor der ersten, vom Slawenapostel Kyrill von Saloniki erdachten glagolitischen Schrift (Glagolica) schreiben konnten. 2017 wurde in einem slawischen Siedlungsgebiet bei Lány-Břeclav in Südmähren (Tschechische Republik) von einer internationalen Gruppe von Archäologen eine Tierrippe mit 24 eingeritzten Zeichen der germanischen Runenreihe „Futhark“ neben Keramik des Prager Typs gefunden. Der unversehrte Knochen hatte höchstwahrscheinlich ein ganzes Runenalphabet umfasst. Datiert auf etwa 600 n. Chr., wäre der Knochen damit der früheste Beweis dafür, dass die Slawen ein Schriftsystem zur Kommunikation, zum Wahrsagen noch vor dem Slawenapostel Kyrill verwendet hatten. Bisher waren Runeninschriften mit der germanischen, nicht aber mit der slawischen Mythologie in Verbindung gebracht worden. Der archäologische Fund in Mähren stellt damit eine Sensation, einen Neuansatz in der Forschung dar. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf ein umstrittenes Manuskript mit dem Titel Über die Buchstaben (O pismenech) eines „tapferen Mönchs“ namens Chrabr aus Preslaw in Bulgarien. In ihm steht Folgendes geschrieben:
„Früher, als die Slawen noch Heiden waren und keine Bücher hatten, lasen und wahrsagten sie mit Hilfe von Strichen und Schnitzen. Als sie aber Christen wurden, versuchten sie die slawische Sprache mit römischen und griechischen Buchstaben niederzuschreiben ohne einer Ordnung zu folgen. […] Dann aber ließ Gott […] seine Gnade über dem slawischen Volk walten, und schickte ihm den heiligen Konstantin, den Philosophen, der Kyrill genannt wurde, einen gerechten und wahrhaftigen Mann. Und er schuf 38 Buchstaben, einige nach griechischem Vorbild, die anderen aber der slawischen Sprache entsprechend.“[2]
Die ursprüngliche Bedeutung des slawischen Worts für schreiben, pisati, war einritzen, einschneiden, zeichnen, malen. Das russische Wort für Buchstabe lautet „буква“ (bukva), abgeleitet vom Wort „бук“ (Buche). In das weiche Buchenholz ließ es sich einfacher ritzen, schneiden, einkerben. Das Polnische hat mit „litera“, wahrscheinlich in Folge der „römisch-lateinischen Christianisierung“, ein lateinisches Lehnwort für Buchstabe übernommen.
Im Unterschied zu den Germanen ist bei den Slawen kein entsprechend strukturiertes Pantheon nachweisbar, es fehlen auch entsprechende dokumentierte Göttersagen. Es gibt kaum sakrale Zeugnisse aus vorchristlicher Zeit; Relikte, Spuren sind bestenfalls in einigen vorchristlichen slawischen Texten zu finden. Dabei schienen die Glaubensvorstellungen der alten Slawen nicht strikt an die slawischen Sprachengrenzen gebunden zu sein, vielmehr waren sie eher in einen größeren europäischen Kulturraum eingebunden. Eine verwegene These geht davon aus, dass es möglicherweise die Wikinger waren, die einen wichtigen Beitrag zur Gründung Polens geleistet haben, dass somit die Vorfahren von Mieszko I, Fürst der Polanen, der 966 das Christentum für seinen Stamm angenommen hatte, aus Skandinavien stammten und über die Kiewer Rus ins Land der Polanen um Gnesen (Gniezno) und Posen (Poznań) gelangt waren. Es ist dabei nicht sicher, ob der Herrscher Rjurik bzw. Rurik tatsächlich existierte oder eher eine Legendenfigur war, die identisch mit dem dänischen Wikinger Rorik sein könnte, der fränkischen Chroniken zufolge im friesischen Dorestad lebte.
Möglicherweise beförderten die Nachfahren Ruriks, die Rurikiden, die Waräger wie auch die Skandinavier allgemein die Entstehung eigener slawischer Staaten wie die Rus von Nowgorod oder die Anfänge eines polnischen Staates unter Mieszko. So schreibt zum Beispiel der russische Chronist Nestor, dass die Vertreibung von Vertretern der späteren „Kiewer Linie der Normannen“, die gegen Nowgorod aufbegehrten, gegen 944 gen Westen aufbrachen und vor der Christianisierung der Polanen (Polani) im heutigen Großpolen (Wielkopolska) eintrafen. Vom Namen des westslawischen Stammes in der Bedeutung von Feldbewohner (polnisch pole, Feld) leitet sich möglicherweise auch der Begriff Polen (Polska) ab, er wird zuweilen aber auch gern von polać/polewać (gießen, begießen) in der Interpretation für „die Getauften“ abgeleitet. In den Berichten des Bayerischen Geografen über die westslawischen Stämme tauchen die Polanen allerdings nicht auf, dagegen gibt es mehrere Quellen, die von Polanen/Poljanen bei Kiew sprechen und die Auffassung vertreten, dass die Kiewer Waräger in ihrem Anpassungsprozess diese Bezeichnung für sich selbst verwendeten und ins heutige Polen mitgebracht hätten. Interessanterweise schreibt der polnische Chronist Wincenty Kadłubek, dass die Polen von den „Wandalen“, in der Bedeutung germanischer Kolonisatoren aus Skandinavien, abstammen würden. In diesem Kontext kann auch eine auf dem Grab von Bolesław Chrobry eingeritzte Aufschrift gedeutet werden: „König der Goten und Polen“ (Król Gotów i Polaków). Diese Auffassungen werden auch von einigen skandinavischen Forschern geteilt.
Der in Warschau lebende schwedische Populärhistoriker Herman Lindqvist spricht in seiner Bücherserie Die Geschichte Schwedens (Historien om Sverige, 1992-2002), Sverige-Polen (Schweden und Polen, 2020) und in der polnischen Ausgabe Przez Bałtyk. 1000 lat polsko-szwedskich wojen i miłości (1000 Jahre polnisch- schwedische Kriege und Liebe, 2020) von Beweisen, dass sich die Skandinavier vom baltisch-altpreußischen Ort Truso im Weichseldelta und dem Handelsplatz Jomsburg im Bereich der Odermündung maßgeblich an der Gründung des polnischen Staatswesens beteiligt hätten. Diese These stieß in Polen zumeist auf heftigen Widerspruch, schien doch eine Hilfe von außen, zumal von germanischer Seite, von vornherein kategorisch ausgeschlossen zu sein. In der Volksrepublik Polen wurde die Verbreitung derartiger Auffassungen bewusst verschwiegen bzw. untersagt, wurde die germanische Präsenz oder gar „Hilfeleistung“ bestritten. Mit dem urslawischen Geschlecht der polnischen Piasten sollte vielmehr auch die Wieder- bzw. Rückgewinnung slawisch-polnischer Gebiete (also des historischen Ostdeutschlands) und deren Anschluss an das polnische Mutterland gerechtfertigt werden.
Inzwischen wird die These von den germanisch-slawisch-polnischen Wechselbeziehungen auch von polnischen Wissenschaftlern aufgegriffen. So vertritt beispielsweise der polnische Archäologe und Schriftsteller Zdzisław Skrok in seinem für Aufsehen sorgenden Buch mit dem provokanten Titel Haben (etwa) die Wikinger Polen geschaffen? (Czy wikingowie stworzyli Polskę?, 2006, 2013) die Meinung, dass Mieszko I. ein Vertreter der Normannen gewesen sei, dessen eigentlicher Name Dagome oder Dago bzw. Dagobert gewesen sei. Dabei stützt er sich u.a. auf ein geheimnisumwobenes Buches im Vatikan, Dagome ludex (1080), das eine Zusammenfassung frühester, verlorengegangener historischer Dokumente über die Piasten und Polen darstellt. Darin findet sich auch eine Information über die Heirat des polnischen Mieszko I. mit der deutschen Oda von Haldensleben (962-1023), Tochter von Dietrich, Markgraf der Normark. Die dynastischen Beziehungen von Piasten und Germanen wurden nach Mieszkos Tod fortgesetzt, so heiratete seine Tochter, Fürstin Świętosława (1046-1126) im Jahre 983 den dänischen König Sven Gabelbart (Svend Tveskaeg, 963-1014), sie war Mutter des späteren Königs von Dänemark, Norwegen, Südschweden und England, Kanut des Große (Knud den Store, 994-1035). Die Abkehr von den alten Göttern, der Verrat am alten Glauben infolge der Christianisierung brachte Legitimationsprobleme mit sich, wurden doch die alten Verbindungen zu den „heidnischen“ Ahnen gekappt.
Versuchen wir einige übergreifende, gemeinsame Charakteristika aufzuführen, die es rechtfertigen könnten, für eine allgemeine Slawische Mythologie zu plädieren. In allen slawischen Götterlehren gibt es einen eindeutigen Dualismus von guten, weißen und ihnen gegenüberstehenden bösen, schwarzen Göttern. Hinzu kommt eine gewisse Hierarchie einzelner Götter in einer vertikalen Dimension von Himmels- und Erdgöttern. Zu ihnen gehören Kriegs- und Friedensgötter, Götter für die Gesundheit, Wohlergehen und Genesung, für Frohsinn und Liebe, für Wachstum, Gedeihen und Ernte, für die Jahreszeiten, für die Natur mit ihren Zyklen von Regen, Überschwemmung und Dürre, mit speziellen Land-, Wasser-, Haus-, Feld- und Tempelgöttern.
Als gemeinsamer Hauptgott kann der weiße, gütige Gott, Bjelbog als höchster Herrscher und Gebieter über die Welt gelten. Er ist Gott des Lichtes und der Sonne, Schöpfer des Himmels und der Erde zugleich. Ihm steht sein größter Widersacher und größter Feind gegenüber, der böse Gott der Nacht und der Finsternis, Czernebog, dem Eichbaum und schwarzes Ross geweiht waren. Gemeinsamkeiten gibt es auch, allerding in unterschiedlich ausgeprägter Gestalt und Bedeutung, bei den Erd- und Wassergöttern, wobei Mokosch, Göttin des Wassers und der Fruchtbarkeit ebenso wie die Rusalken, Nixen, bei fast allen Slawen anzutreffen sind und Eingang in die Sitten und Bräuche gefunden haben. Mit weiteren Wasserwesen, Wassermännern, Wassergeistern und Vilen spielen sie nicht nur in der slawischen Mythologie, sondern auch in der Literatur, Kunst und Kultur eine wichtige Rolle. Rusalken und Vilen sind betörend schöne weibliche Wesen mit langen Haaren, die auf Waldlichtungen und Wiesen kreisrunde Tanzflächen hinterlassen, die keinesfalls betreten werden dürfen. Sie sind dem Menschen zumeist wohlgesonnen und gehen in Ausnahmefällen auch körperliche Verbindungen mit ihnen ein, wie zum Beispiel in der Gründungsgeschichte von Warschau. Dem verliebten Fischer Wars gelingt es, die schöne Nymphe Sawa für sich zu gewinnen, sie geht ihm wortwörtlich ins Netz, sie gründen eine Familie und eine Stadt, der sie ihren Namen geben: WARS-SAWA. Alexander Puschkin verfasste ein Drama mit dem Titel Rusalka (1832, dt. Die Meerjungfrau oder Die Nixe) und der tschechische Komponisten Antonín Dvořák wurde mit seiner Oper Rusalka (1901) bekannt.
Von besonderer Bedeutung ist die als Mutter allen Lebens dargestellte große Erdmutter. Als Quell allen Lebens wird sie oft mit mehreren Brüsten dargestellt. Ihr steht Marzan(n)a, Morana, Morena, als junges Mädchen auch Mara genannt gegenüber. Sie ist die Tochter des Donnergotts Perun und der Göttin Mokosch, in einigen Regionen wird sie auch Śmiertka (Tödin) genannt, sie ist die Göttin des Entschlafens, steht für den Winter, das Sterben in der Natur und den menschlichen Tod. Die Todesgöttin wird beim Tod-Austreiben, dem Winterbrennen und Frühling-/Sommergewinn als Strohpuppe feierlich verbrannt bzw. ins Wasser geworfen und damit ertränkt. Dieser Brauch hat sich teilweise bis heute auch in einigen Gebieten Mitteldeutschlands erhalten.
Eine weitere Version besagt, dass sich Marzanna jedes Jahr im Vorfrühling mit ihrem aus der Ferne kommenden Bruder Jarilo vereint und damit den Frühling und Fruchtbarkeit bringt. Der Name Jarilo oder aber auch Jarovit kann von der slawischen Wurzel „jar“ in der Bedeutung von Lenz/Frühling abgeleitet werden. Im Tschechischen heißt der Frühling bis heute „jaro“. Zu dem dominanten männlichen Gottheiten gehören der Wassermann wie auch der Gebieter über die Meere, Morskij Zar, bei den Ostslawen. Gemeinsam sind fast allen Slawen ähnliche, zumeist in wehende, weiße Gewänder gekleidete Schicksalsgöttinnen, welche ihre Untergebenen, die toten Seelen, in die Unterwelt begleiten. Durch den christlichen Einfluss kommt es zu einer zusätzlichen Interpretation der vertikalen Welt des Himmels als „raj“, Paradies und der Unterwelt als „peklo“, Hölle. Ähnlichkeiten weisen auch die Priester, Wahrsager, nicht selten in Gestalt weiser Frauen und Orakel auf, ebenso die Bitt-, Sühn- und Dankopfer in Gestalt von Speisen und Getränken (Wein bzw. Met), Blumen, Feldfrüchten, Tieren oder gar Menschen (Kriegsgefangene). Damit verbunden sind dementsprechende Rituale, Zeremonien und Feste in heiligen Hainen oder unter heiligen Bäumen.
Des Weiteren gibt es bei allen Slawen mythische Quellen, Bäche, Flüsse, Seen und Teiche. Allerdings unterscheiden sich bereits frühzeitig die Göttersitze und Tempel der Ostslawen in Kiew und Nowgorod von den westslawischen Zentren Arkona und Rethra. Dabei weist die Mythologie der Westslawen eine deutlichere Differenzierung und einen geregelteren, fixierten Kult auf als bei den Ostslawen. Während es bei allen Slawen den Weltenbaum, eine Eiche, als Symbol für das Weltall gibt, unterscheiden sich die Vorstellungen von der Schöpfung der Erde und der Entstehung des Menschen zumeist deutlich voneinander. So glich die Erde bei den Ostlawen einem riesigen Walfisch. Von den Tieren war es der als heilig angesehene Stier, der von allen Slawen verehrt wurde.
Bei aller Unsicherheit, was den Rang und die Stellung gewisser Götter im vorchristlichen Pantheon betrifft, kommt einem Gott bei den Slawen und Balten eine besondere Stellung zu: Es ist Perun/Piorun bzw. Perunas bei den Balten. Wahrscheinlich hat er sich durch den Einfluss anderer mythologischer Vorstellungen gegen den ursprünglichen slawischen Donner- Blitz- und Kriegsgott „Stribog“, durchgesetzt, ihm den Platz als oberste Gottheit streitig gemacht. So kann Perun als Blitze schleudernder Donnergott in seiner Stellung und Bedeutung durchaus mit Zeus, Jupiter, Donar und Thor gleichgesetzt werden; er kann damit als ein wichtiges Bindeglied zur indogermanischen Mythologie angesehen werden. Der slawisch-baltische Perun ist der Gott des Gewitters, des Blitzes und des Donnerschlags; Axt, Eiche und das einer Sonne gleichende „Sturmlicht“ wie auch eine Elster und die magisch-blaue Blume (Iris) gehören zu seinen Symbolen. Im Verlauf der Zeit ist aus dem „Sturmlicht“ das Radsymbol des Donnerwagens von Perun geworden. Sein als heilig geltender Name durfte nur in äußersten Notfällen ausgesprochen werden. Bis heute hat sich „perun/piorun“ in der Bedeutung von „mit Blitz und Donner strafen“ in zahlreichen Redewendungen und Flüchen erhalten wie z.B. im Polnischen: „Do pioruna!“ „Do stu piorunów!“ (Zum Donnerwetter! Himmelhergott noch einmal!) „Idź, wynoś się do pioruna!“ (Scher dich zum Teufel!) „Niech Cie (jasny) piorun trzaśnie!“ (Der Schlag soll dich treffen!). In bildlichen Darstellungen trägt Perun fast immer eine glänzende Rüstung, oft fährt er in seinem donnernden Wagen über den Himmel, in der Hand trägt er einen Steinhammer, den er zuweilen auch auf Menschen richtet und sie augenblicklich versteinern lässt. Die von ihm auf der Erde zurückgelassenen Perun-Steine werden auch heute noch als ein besonderer Schutz gegen Blitzschlag angesehen, sie dienen zudem der Heilung. Als Gottheit ersten Ranges wird Perun Macht, übermenschliche Kraft, Gewalt, aber auch Rechtsprechung bzw. Urteilsvermögen zugesprochen. Interessant ist die verbreitete Auffassung, dass Perun auch in der Lage ist seine Gestalt zu verändern. So tritt er in Gestalt von verschiedenen Tieren (u.a. als Stier oder Vogel) oder als Mensch auf. In der Mythenforschung geht man von einer weitgehenden Übertragung der Stellung und Bedeutung Peruns auf Swantewit (Svatovid, Svetovid, Świętowid) bei den West- und vor allem aber bei den Ostseeslawen aus.
Die Bewegung zur Wiedererweckung der eigenen, indigenen Religionen stellt sich dem von außen aufgedrängten und damit fremden christlichen Glauben entgegen. Angestrebt wird die allseitige Wiederbelebung des vorchristlichen Glaubens mit seinen Riten, Zeremonien, Sitten und Bräuchen wie auch die Rückkehr zum Ursprünglichen, Natürlichen, zur Natur. Die Vertreter dieses Neopaganismus lehnen kategorisch den Begriff „Heiden“ ab, sie selbst bezeichnen sich als „Rodisten“, von slawischen Wort rod: Stamm, Geschlecht abgeleitet oder aber auch als „Indigene“. In Polen gibt es derartige neuheidnische Tendenzen bereits seit mehr als 90 Jahren. Inzwischen haben sich zwei Strömungen herausgebildet. Die eine Richtung ist eng mit der Natur, mit alten Riten, Traditionen und Zeremonien verbunden und propagiert einen slawischen Polytheismus als Ur-Religion. Im Zusammenhang mit dem Mythos von der untergegangenen, sagenhaften Stadt „Vineta“ (Wolin, Jomsborg), auch „Atlantis des Nordens“ genannt, wird Bezug auf die legendären Veneter genommen.
Die polnische „Indigene Kirche“ (Kościół rodzimy) beruft sich –vergleichbar mit ähnlichen Entwicklungstendenzen in Lateinamerika, Afrika und Australien – auf den Glauben der eingeborenen Bevölkerung vor der Christianisierung. Auf der Grundlage historischer wie auch religionswissenschaftlicher Texte soll der alte slawische Glaube verbreitet und kultiviert werden. Dabei ist die „Indigene Kirche“ bemüht, tolerant, liberal und unpolitisch zu erscheinen. Der „Weltenschöpfer“ Swantewit (im Polnischen Światowid) nimmt in der neuheidnischen Bewegung wieder den ersten Platz in der slawischen Götterhierarchie ein, er wird als zentrale Figur bei der Wiederherstellung der alten vorchristlichen Ordnung gepriesen und verehrt. „Heidnische“ Zeremonien und Rituale wie Jare Gody (Jare Święto, Frühlingfeste) erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Derartige Feiern gibt es auch am Übergang vom alten zum neuen Jahr, vom Winter zum Frühjahr.
Einer anderen, patriotisch-nationalistischen Strömung gehören Vereine und Gemeinschaften an, die oft auch rassistisch und antisemitisch eingestellt sind. Erfolgreich sind auch Vertreter der slawischen Gemeinschafts-Ideologie, die den fremden, aufgezwungenen Katholizismus als Hauptursache für den wirtschaftlichen und politischen Niedergang des Landes ausmachen. Seit den 1990er Jahren spricht sich die neuheidnische Gemeinschaft „Rodzima Wiara“ (Indigener Glaube) für die Einheit aller slawischen wie nichtslawischen „indoarischen Völker“ Europas aus. Ihre indigene Kultur, ihren ursprünglichen Glauben sehen sie durch die Religion und die „Nomadenkultur“ von Muslimen und Semiten bedroht. Viele Anhänger der neuheidnischen Bewegung fühlen sich mit Gleichgesinnten in anderen slawischen Ländern eng verbunden. 1994 wurde in Russland die erste indigene Glaubensgemeinschaft „Rodnowery“ (Indigener Glauben) gegründet, 1997 folgte die „Union der slawischen indigenen Glaubensgemeinschaften“, die auch den Kontakt zu Gleichgesinnten in anderen slawischen Ländern sucht.
Des Weiteren gibt es an idealisierte, vorchristliche Vorstellungen anknüpfende slawische Großmachtvorstellungen vor allem bei den Russen, Serben und Polen. Dazu gehört die weit verbreitete, populäre Idee von einem Groß-Lechien der seit 2013 in Internetforen erdachten „Turbo-Polen“. Es ist ein Mythos, der auf den sagenhaften Gründungsvater Polens, Lech, aufbaut und alle slawischen Stämme unter Führung der Lechiten bzw. Lechen in einem vorchristlichen Imperium aller Slawen vereint sehen will.[3] Diese Pseudotheorie stützt sich auf panslawische, großpolnische und rassistische Vorstellungen. Das Herrschergeschlecht der polnischen Piasten wird dabei als Erbe und Nachfolger dieses angeblich seit Jahrtausenden bestehenden Großreiches angesehen, das von Arier-Slawen (sic!) bewohnt wurde, die sich erfolgreich Alexander dem Großen und den römischen Kaisern entgegengestellt und damit zum Zerfall des Römischen Reiches beigetragen hätten. Eine germanisch-deutsche Verschwörung mit dem Vatikan hätte letztendlich zum Untergang dieses Groß-Lechischen Imperiums beigetragen.
All diese „Fakten“ hätte die Geschichtsschreibung bisher bewusst verschwiegen. Als Nachweis für das existierende slawisch-polnische Imperium, das mit dem Römischen Reich verglichen wird, dienen pseudowissenschaftliche „Beweise“ und Fälschungen in Form von Chroniken, (pseudo-)archäologischen Funden angeblicher Königsgräber, slawische Runen, lateinische Inschriften zu Ehren der Herrscher des slawischen Großreiches ebenso wie erdachte Landkarten. Die „wissenschaftliche“ Grundlage für diese Phantastereien ist eine Publikation aus dem Jahr 2015 von Janusz Bieszek: Die slawischen Könige Lechiens. Das antike Polen (Słowiańscy królowie Lechii. Polska starożytna). Eine durchaus interessante Herausforderung stellt der Vergleich der polnischen Phantasmen mit anderen, sich auf die vorchristliche slawische Mythologie berufenden und zum Teil gefährlichen Großmachtphantasien dar, wie u.a. der großserbische Amselfeld-Mythos nahelegt.
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
Anmerkungen:
[1] Herrmann, Joachim (1986): Welt der Slawen. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. Leipzig, Jena, Berlin, S. 23.
[2] Rudolf Abicht: Das Alphabet Chrabrs. In: Archiv für Slavische Philologie Nr. 31 1910, S. 210-217.
[3] Artur Wócik: Fantazmat Wielkiej Lechii. Jak pseudonauka zawładnęła umysłami Polaków. Oświęcim 2019.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Schreit im Zweifelsfall einfach ganz laut „Tante Grete, Tante Grete, Tante Grete“.
Ich finde es sehr schade, dass es Jugoslawien nicht mehr giebt.
Danke für den schönen reflektierten Überblick über die slawischen Mytheme.
Betr. der mythischen „Erdmutter“ scheint eine Art Parallele zur germ. Kosmologie mit „gäa“ und „ginungagap“ denkbar.
Lieber Herr Dr. Trepte.
Schade, dass Ihr Beitrag, der interessant beginnt mit unrichtigen, ja geradezu beleidigenden Bemerkung endet.
Grossmachtphantasien haben, historisch nachweislich bei einigen Völkern zu sehr wohl nachweislichen Verwüstungen, Zerstörungen des Kulturguts, martialischer Vernichtung Menschenlebens, etc. geführt.
Mir ist dergleichen, außer beim Zerfall Jugoslawiens, durch paramilitärische Einheiten, nicht nur serbischen Zugehörigkeit… nicht bekannt.
Im Vertrauen darauf, dass Ihnen die alte Geschichte, aber auch und leider wieder, durch inzwischen andere „Großmächte“ neuere Begehren nicht fremd ist.
Allen eigen ist offensichtlich eine „neue Weltordnung“ einzurichten, die früher mit Feuer und Schwert (Sjenkiewitsch) und heutzutage mit atomaren Sprengköpfen, ferngesteuerten Drohnen und dergl. mehr zunächst in Schutt und Asche zerbombt wird, um dann, aber auch das ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, mit Geschichtsverfremdung, Umbenennung, fakenews, usw…. „passend“ also zum neuen „Glauben“ zu gestalten.
Die Schlacht am Amselfeld fand zu einem Zeitpunkt statt, als die dort lebende Bevölkerung schon längst Christen waren (und blieben). Die Christianisierung fand dort bereits im 4. Jhdt. statt, die Schlacht am Amselfeld im 14.
Die verlorene Schlacht hatte zur Folge, aber auch das wissen Sie sicher, dass sich das um vielfaches stärkere osmanische Heer etwa 4 Jahrhunderte lang und später bis nach Wien ausbreitete.
Nicht nur der Legende nach hinterließ dieses Großreich, u.v.a. das Croissant und den leckeren Kaffee. Manche verbinden es mit Paris, wo es zum Kultfrühstück avancierte, in New York glauben Ahnungslose und nicht Hinterfragende, der Italiener an der Ecke hätte es und nur für sie erfunden… doch so oder so ähnlich, verzeihen Sie mir den äußerst vereinfachten Vergleich, ereignen sich Verfälschungen, entstehen Mythen…
Mit freundlichen Grüßen
Liliana Häussler