Löwenmenschen und Schamanen – Magie in der Vorgeschichte

Was ist Magie? Ist sie das Tor zu dem, was wir jenseits unserer Sinne und unserer Vorstellungskraft vermuten? Unsere ureigene Manipulation und Projektion von Wünschen, Ängsten und Träumen in einem? Die treibende Kraft für das, was greifbar scheint und doch ungreifbar bleibt – das Versprechen nach dem Möglichen, der Sehnsucht nach Erkenntnis, an welcher sich der Goethische Faust fast schon verzweifelt abmühte? Oder ist Magie ein Mittel der Ordnung, das unserer von Augenblick zu Augenblick neu erlebten und wahrgenommenen Welt Strukturen verleiht mithilfe von Amuletten, Bildern, Ritualen und nicht zuletzt dem (schriftlichen und gesprochenen) Wort?

Wohl nirgends zeigt sich die Magie so urtümlich, so strukturiert und wild zugleich wie in der Frühgeschichte des Menschen. Daher wagen die Prähistoriker Andrea Zeeb-Lanz und Andy Reymann den Versuch, in ihrem beim wbg Theiss Verlag erschienenen Buch „Löwenmenschen und Schamanen“ in die magische Vorgeschichte des Menschen einzutauchen. Ein Tauchgang, der u. a. bis zu den Höhlenmalereien des Paläolithikums – die Zeit von Aurignacien und Magdalénien (ca. 37.000 bis ca. 11.000 v. Chr.) – zurückreicht und der sich nicht zuletzt deswegen lohnt, weil er mit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl erläuternder Illustrationen einhergeht, die dem Leser den Kontext auch visuell näherbringen; eine wunderbare Ergänzung zum Text, ist doch die Ergründung frühgeschichtlicher Magie vor allem ein archäologisches Puzzlespiel, bei dem viele Lücken offen bleiben und Raum für Spekulationen über soziale und gesellschaftliche Interaktionen prähistorischer Kulturen bieten.

Schamanen

In einer Zeit, in welcher die Wirkmächtigkeit, die man der Magie seit jeher zuschrieb, noch nicht mit schriftlich fixierten Worten in Verbindung gebracht wurde, oblag die Zuständigkeit des Übersinnlichen und die Verbindung mit der Anderswelt den Schamanen. „Im Gegensatz zu Priestern, die einer bestimmten Religion und damit auch in der Regel einer religiösen Institution mit gewissen Machtansprüchen verpflichtet sind, ist der Schamane unabhängig von einem spezifischen Kult; er betete nicht eine oder mehrere Gottheiten an, sondern ruft Geister, die er sich zu verpflichten sucht, damit sie für das Wohl der Gemeinschaft – oder auch einzelner Betroffener aus der jeweiligen Gruppe – in seinem Sinne tätig werden.“ (S. 12)

Der Begriff „Schamane“ stammt aus dem 17. Jahrhundert. Er beruht auf Berichten und Beobachtungen von Stämmen in Zentralsibirien, bei denen ausgewählte Personen mithilfe von Trommeln, Gesängen und/oder bewusstseinsverändernden Pflanzen oder Pilzen in Kommunikation mit der Geisterwelt traten und damit zum Vermittler zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wurden. Trance und Seelenwanderung (mit oder ohne Geist-Tier), aber auch die metaphorisch-trancebedingte Verwandlung in ein Tier selbst gelten als zentrale Elemente des Schamanismus, der in den ethnischen Religionen Sibiriens, Australiens oder Nordamerikas auch heute noch eine bedeutende Rolle spielt. Vor allem Heilung und die Voraussage, wie etwa für eine erfolgreiche Jagd, zählten und zählen zu den vornehmlichen Aufgaben eines Schamanen, die deshalb innerhalb ihrer Gemeinschaften hohes Ansehen genießen.

Zeeb-Lanz und Reymann vermuten, dass auch die Schamanen der Vorzeit eine besondere Stellung innerhalb von prähistorischen Gruppen und Gesellschaften besaßen und führen dafür u. a. Beispiele aus dem Bestattungskult an. So waren Gräber, wie etwa jenes der sogenannten Schamanin von Bad Dürrenberg (Saalekreis, Sachsen-Anhalt) aus dem 6. vorchristlichen Jahrtausend mit reichhaltigem Schmuck (aus Wildschwein-, Hirsch- und Rehzähnen) und mit Skelettresten von Tieren wie Biber, Wisent, Sumpfschildkröten oder Flussmuscheln etc. ausgestattet. Dieser Umstand sowie die relativ große Grabgrube und Hinweise aus eine mögliche Behinderung der Toten (Verformungen der Wirbelsäule) legen den Schluss nahe, dass es sich um eine bedeutende Person gehandelt hat. „Die Palette der Erklärungen reicht von einer Medizinfrau oder Heilerin bis hin zu der prominentesten Deutung, es müsse sich um eine Schamanin nach Art der sibirischen Trancespezialisten gehandelt haben.“ Auch die Sitzbestattung spielt für die Erklärung eine Rolle, denn dabei handelt es sich um eine zwar archäologisch belegbare, aber dennoch „unübliche Totenhaltung“ (S. 49).

Höhlen

Lascaux (Dordogne, Frankreich), Bison und Mann (Schamane?)

Einen prominenten Part im Buch nehmen die Felsritzungen und Wandmalereien europäischer und und südafrikanischer Höhlen ein. Im französischen Lascaux und Les-Trois-Fréres (Drei-Brüder-Höhle) etwa, die aufgrund ihrer reichhaltigen Bilderwelt generell Einblicke in Kunst, Vorstellungswelt und Zusammenleben paläolithischer Gesellschaften geben, sollen einige der Abbildungen magische Seelenwanderungen und damit bedingte tier-menschliche Verwandlungen darstellen. Höhlen galten als spirituelle Orte von Grenzen und Übergängen. Farbige Handabdrücke an Felsen könnten ein Hinweis darauf sein, dass der Stein als eine Art „Scheidewand zwischen der Welt der Menschen und der unsichtbaren Sphäre der Geister angesehen“ wurde (S. 23). Ein Bildnis der „Schachtszene“ aus Lascaux – angebracht in einem 8 m tiefen Höhlenschacht – zeigt einen Bison, der mit gesenktem Kopf einen Menschen (anhand des erigierten Penis als Mann kenntlich gemacht) anzugreifen scheint. Die Figur wirkt dabei, als sei sie im Fallen begriffen. Anstelle eines Menschenkopfs trägt sie vogelähnliche Züge und darunter befindet sich ein Stab, der ebenfalls von einem Vogel bekrönt ist. Die jüngere Forschung, so die Autoren Zeeb-Lanz/Reymann, interpretiert die Szene nicht als Jagd-, sondern als schamanistische Darstellung. „Der Bison steht nicht auf imaginärem Boden, sondern scheint zu schweben, vielleicht als Geist-Tier in der Sphäre der Anderswelt. Die teilverwandelte Figur des Mannes ist die eines Schamanen, der sich in tiefer Trance befindet und sich in diesem ekstatischen Zustand teilweise in die Form eines Geisthelfers verwandelt.“ (S. 31) Es handelt sich, so die Interpretation der Autoren, um eine Transformationsdarstellung. Der Schamane muss metaphorisch „sterben“, damit es ihm möglich ist, sich in der Geisterwelt zu verwandeln. Vielleicht in einen Vogel – wofür das Abbild des Vogelstabes stehen könnte. Der Bison steht ihm dabei als Geist-Tier zur Seite. Die gesamte Szenerie zum ersten Mal in den Schein von Lampen getaucht betrachtet, dürfte nicht nur für heutige Forscher eine übersinnliche und durch und durch magische Wirkung besessen haben.

„Der Zauberer von Trois-Frères“

Eine weitere, wenn vielleicht nicht sogar die bekannteste bildliche Darstellung eines sich in ein Tier verwandelnden Schamanen prähistorischer Zeit finden wir in der Drei-Brüder-Höhle am Fuße der Pyrenäen. Bekannt ist das Bild auch unter der Bezeichnung der „Zauberer von Les Trois-Frères“ oder, wie ihn der französische Prähistoriker Henry Breuil (1877-1961) bezeichnete, der „gehörnte Gott“. Letzterer findet sich in Tanzpose auch im großen Wandbild der Höhle wieder. „Das Mischwesen besitzt einen buschigen Schwanz, unter dem menschliche Genitalien zu sehen sind. Der Körper eines Tieres (vermutlich Wisent oder Hirsch) endet vorn in wiederum menschlichen Extremitäten, auf deren Ende die fünf Fingerglieder als Striche angedeutet sind. Das Mischwesen hat einen langen Bart und trägt auf dem Kopf ein Rengeweih – keine Hörner!“ (S. 25) Vor allem das Geweih wird als Schmuck zur schamanischen „Ausstattung“ gerechnet. Ob es sich bei den Abbildern tatsächlich um eine Schamanendarstellung oder bloße menschliche Fantasie handelt, ist bis heute nicht abschließend geklärt und wird es vermutlich auch nie. Auch dies – keine endgültige Erklärung für etwas zu haben – kann Magie sein.

Ton und Klang

Bortlaibidol

Sehr viel praktischer und handlich-zauberischer sind da doch die zumeist aus Ton hergestellten Brotlaibidole (nicht größer als 9 cm), welche vornehmlich aus der Bronzezeit (ca. 11850-1400 v. Chr.) stammen. Ihrer zumeist langovalen Form nach ähneln sie Broten. Darüber hinaus können sie mit Rillen und Stempeleindrücken verziert sein. Funde sind bislang aus Norditalien, Niederösterreich, Süddeutschland, Ungarn und dem Balkan bekannt; die Interpretationen über ihre Funktion reichen von Warenmarken, die beim Bernsteinhandel ausgetauscht wurden, bis hin zu Argumenten magisch-kultischer Bedeutung. Brotlaibiodole wurden vielfach als Grabbeigaben nachgewiesen. Zudem wird vermutet, dass sie als Amulette zur Abwehr von Unheil gedient haben könnten. Viele der Brotlaibe waren beim Fund zerbrochen, auf eine Weise, die natürliche Zerstörung ausschließt, ein Hinweis darauf, dass sie ihrer ursprünglichen Funktion absichtlich beraubt wurden, womöglich, um sie vor fremden bzw. zweckentfremdeten Zugriffen zu schützen. Eine Praxis, die vor allem aus dem magisch-kultischem Bereich bekannt ist.

Luren von Radbjerg

Neben plastisch-praktischen Zeugnissen für frühgeschichtliche magische Handlungen sowie Beschreibungen von Wirkweisen halluzinogener Pflanzen wie Fliegenpilz, Mohn, Myrre und Hanf (laut dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot essentieller Teil für das „Dampfbad“ der Skythen) widmen Zeeb-Lanz und Reymann auch der Akustik und der Musik ein eigenes Kapitel im magischen Kanon. Noch bei heutigen Schamanen sind vor allem Trommeln essentiell für die Trance. Aber auch den Luren, Blasinstrumenten aus Bronze, bestehend aus einem langen gewundenen Rohr und einer weiten Schallmündung, deren Funde vornehmlich aus dem baltischen, skandinavischen und norddeutschen Raum stammen, werden magische Klänge im kultischen Gebrauch nachgesagt. Zum einen konnten wissenschaftliche Untersuchungen nachweisen, dass die Herstellung relativ aufwendig gewesen sein musste, zum anderen sind nur wenige Funde in Gräbern belegt. Die meisten Luren waren Zufallsfunde in Mooren oder Seen, weshalb auch hier ein kultischer Zweck zu vermuten ist, der die Instrumente aus der Sphäre des profanen Gebrauchs enthob.

Es ist eine kenntnisreiche Einführung, welche die Autoren mit ihrem Buch vorlegen und bestens geeignet für alle, die sich für prähistorische Kultur und/oder Archäologie interessieren, auch wenn die vorgestellten Zeugnisse sich zumeist auf den europäischen Raum beziehen. Vor allem die Vielfalt der beschriebenen Beispiele macht Lust, sich näher mit den Kulturen und Gesellschaften der Vorgeschichte, dem Mythos Höhle, mit Geistern oder mit den großen Fragen von Leben und Tod, Imagination und Seele, Klang und Raum zu befassen.

Und was ist nun mit der Magie? Sie ist in diesem Buch stetig präsent und steht doch zumeist zwischen den Zeilen. Sie ist so abstrakt wie greifbar, und auf eigenartige Weise vermittelt sie dabei etwas zutiefst Tröstliches: dass die Vorstellungen von dem, was sich hinter der sinnlich wahrgenommenen Welt befindet, die Menschen der Frühzeit genauso faszinierte und beschäftigte wie uns heute. Dadurch scheint der so lang und unendlich anmutende Zeitstrahl der Geschichte nicht mehr gar so fern und unnahbar. Vielleicht braucht es am Ende also nur einen Hauch Magie, der in uns allen steckt.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Andrea Zeeb-Lanz/Andy Reymann: Löwenmenschen und Schamanen. Magie in der Vorgeschichte. wbg Theiss: Darmstadt, 2019.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Löwenmenschen und Schamanen – Magie in der Vorgeschichte“

  1. Ja, diese Höhlenbilder geben immer wieder Anlass zum Nachdenken: woher kommen wir und wohin gehen wir? Danke für diesen spannenden Bericht
    Elmar Schenkel

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