Von all den Legenden, die die geistige Welt des Mittelalters prägten, ist die Legende – oder sagen wir, der Mythos – vom Priesterkönig Johannes eine der nachhaltigsten gewesen. Im 12. Jahrhundert lief durch Europa die Kunde von einem mächtigen christlichen Herrscher im Osten, der seinen Glaubensbrüdern im Kampf gegen den Islam zu Hilfe kommen würde. Presbyter, d. h. Ältester bzw. Priester, nenne er sich, weil an seinem Hof eine Unzahl weltlicher und geistlicher Würdenträger Dienst tue, unter denen er sich durch einen Akt paradoxer Bescheidenheit auszeichne, wo er doch Herr aller Herren und in Wahrheit der mächtigste Monarch der Welt sei. In seinem Reich herrschten wahrhaft paradiesische Zustände: Überfluss an allem, kein Verbrechen, keine Unmoral; Krankheiten könnten wundersam geheilt werden, Quellen schenkten Jugend und langes Leben.
Sein Reich, das sich durch eine fabelhafte Fauna und Flora auszeichne, umfasse auch nicht weniger fabelhafte Bewohner, und es werde von Flüssen durchzogen, die geradewegs aus dem Paradies kämen. Denn Johannes herrsche über Indien, und Indien sei dem Paradies am nächsten … Utopisches Gegenbild zu den schmerzlichen Unzulänglichkeiten der europäischen Realitäten und Traum von wundersamem Beistand gegen einen schier unbesieglichen Feind: Jahrhundertelang hat die europäische Imagination daran festgehalten und den Priesterkönig zunächst in Indien, später in Zentralasien und zuletzt in Afrika (genauer in Äthiopien) lokalisiert. Dass ihn nie jemand fand, dass er eine imaginäre Größe war, spielte für die Lebendigkeit des Mythos keine Rolle. Kollektive Phantasien, Wünsche und Wirklichkeitsbestandteile durchdrangen einander in wechselndem Mischungsverhältnis und beflügelten nicht nur die Vorstellungskraft, sondern hatten auch reale Auswirkungen. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf diesen Komplex geworfen werden.
Östlich von Indien
Beginnen wir mit dem Paradies, dem Garten Eden, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten, obwohl Gott es ihnen verboten hatte. Heute werden es ja die meisten für einen rein imaginären Ort halten, für eine mythische Lokalität eben. Das Mittelalter aber wusste noch genau, wo es lag: Im äußersten Osten der Welt. Mittelalterliche Kartographen richteten ihre Weltkarten danach aus; Osten war oben, denn aus dem Osten kommt das Licht, und auch der wiederauferstandene Christus wird einst aus dem Osten kommen. So zeigt die 1280 für die Bischofskirche von Hereford (England) geschaffene Karte das Paradies als Insel, auf der Adam und Eva eingezeichnet sind sowie die vier Paradiesflüsse. Es ist von Mauer und Gebirge umgeben, und auf dem Festland steht der Engel, der darüber wacht, dass niemand hineinkommt. Und unterhalb des Paradieses erstreckt sich wie ein breiter Gürtel von Ozean zu Ozean das Land Indien. Noch im 14. Jahrhundert will ein Franziskaner aus Florenz, der immerhin etliche Jahre in China und Indien verbracht hatte, bis auf 40 italienische Meilen (etwa 74 Kilometer) an das Paradies herangekommen sein … Die mittelalterlich Geographie Indiens war, nach heutigen Begriffen, eigenartig. Indien bestand zumeist aus drei Teilen: Äthiopien, das eigentliche Indien und Indochina. Es ist Indien, wo die Geschichte vom Priesterkönig Johannes ihren Anfang nahm …
Im Jahre 1122, so berichtet ein anonymer Autor, kam ein indischer Patriarch namens Johannes aus Byzanz nach Rom und berichtete dem Papst Calixt II. und seinen Kardinälen wahrhafte Wunderdinge aus seiner Heimat. Die indische Hauptstadt, in der er residiere, heiße Hulna und habe einen Umfang von sage und schreibe vier Tagesreisen. Sie werde vom Paradiesfluss Phison durchflossen, der Gold und Edelsteine mit sich führe. Nur Christen lebten in Hulna – Ungläubige bekehrten sich sofort oder stürben sehr bald. Außerhalb der Stadt, inmitten eines tiefen Sees und flankiert von zwölf Klöstern an seinen Ufern, liege die Mutterkirche des Apostels Thomas. In dieser Kirche befinde sich ein Schrein, in dem der Körper des Heiligen aufbewahrt werde. Der Patriarch schilderte, wie der tote Heilige an seinem Festtag in gewisser Weise lebendig wird, wobei sein Gesicht wie ein Stern leuchtet. Er heilt Kranke und teilt bei der Messe die Hostie aus, die ihm der Patriarch reicht, aber nur an Rechtgläubige; bei Sündern, Häretikern oder Ungläubigen schließt er die Hand. Der Apostel Thomas ging der Legende zufolge nach dem Tod Jesu auf Missionsreise in Richtung Osten und kam bis nach Indien, wo er schließlich den Märtyrertod erlitt. Die sich auf ihn berufenden christlichen Kirchen existieren bis heute – aber sein Grab befindet sich nicht in Hulna, das bis heute nicht lokalisiert wurde, sondern in Mylapore im Bundesstaat Tamil Nadu, das heute ein Stadtteil von Chennai (früher Madras) ist. Was erzählte also der angebliche Patriarch, wenn es ihn denn überhaupt gegeben hat …
Seine Zuhörer scheinen es für bare Münze genommen zu haben. Eine weitere Quelle, der Abt Odo von Saint-Remi in Reims, berichtet Ähnliches und fügt hinzu, dass der Papst und seine Kardinäle dem Patriarchen zunächst nicht glauben wollten – erst als dieser aufs Evangelium geschworen habe, hätten sie ihm Glauben geschenkt. Der Patriarch wird hier noch nicht als „Priesterkönig“ oder „Presbyter“ Johannes bezeichnet, aber in der „Chronica“ des Bischofs Otto von Freising (ca. 1111 – 1158), des Onkels Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, tritt dieser wahrhaft mythische Potentat uns das erste Mal entgegen. Otto referiert, was er 1145 in Italien von dem syrischen Bischof Hugo von Gabala erfuhr: Ein gewisser Johannes, König und christlicher Priester im äußersten Osten, habe vor einigen Jahren in einer dreitägigen Schlacht die Könige der Meder und Perser geschlagen und ihre Länder erobert. Dahinter steckt möglicherweise der Sieg, den die aus Nordwestchina kommenden Kara-Kitai unter ihrem Khan Yeh-lü Ta-shih 1141 bei der persischen Stadt Qatwan über den Seldschuken-Sultan Sanjar errungen hatten. Viele Kara-Kitai waren nestorianische Christen. Ihr Khan führte den Titel Gur-Khan oder Khor-Khan, woraus auf dem Umweg über das Hebräische bzw. Syrische „Johannes“ geworden sein könnte. Nun war Yeh-lü Ta-shi höchstwahrscheinlich Buddhist, aber für die Legende ist dies ohne Belang. Nach seinem Sieg habe Johannes gegen Jerusalem ziehen wollen, aber den Tigris trotz jahrelangen Wartens nicht überschreiten können und sei wieder umgekehrt. Er stamme aus dem Geschlecht der Magier – mit anderen Worten, er sei mit den Heiligen Drei Königen aus dem Neuen Testament verwandt, die einst, geleitet vom Stern zu Bethlehem, dem neu geborenen Jesuskind huldigten. 1370, also rund 200 Jahre später, sollte Johannes von Hildesheim davon ausführlich erzählen.
Der „Herr der Herren“
Um das Jahr 1177 tritt Johannes als Herrscher der drei Indien selbst in Erscheinung – als Verfasser eines Briefes an den Kaiser von Byzanz. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Manuel I. Komnenos (1144-1180) der Adressat. Etwas herablassend wird er als „Staatenlenker der ‚Rhomäer’“, d. h. der Römer bezeichnet – die Byzantiner verstanden sich als Römer, obwohl sie Griechisch sprachen, war doch Byzanz in der Tat die östliche Hälfte des römischen Reiches, die Westrom um rund tausend Jahre überleben sollte, bis sie 1453 mit dem Fall der Hauptstadt Konstantinopel endgültig von den osmanischen Türken annektiert wurde. Der Briefschreiber tritt dem Kaiser – und uns – wahrhaft in Überlebensgröße entgegen. Er hält ihm vor, dass die Byzantiner einen Gott in ihm erblicken: „Wir hingegen wissen, dass du sterblich bist und der menschlichen Hinfälligkeit unterliegst.“ Mit einem gewaltigen Heer will er nach Jerusalem ziehen, um „die Feinde des Kreuzes Christi zu erniedrigen und zu bekriegen und seinen gepriesenen Namen zu verherrlichen.“
Im Reich des Priesterkönigs selbst leben erstaunliche Kreaturen: Neben weißen und roten Löwen gibt es Greifen, Vampire, wilde Menschen, gehörnte Menschen, Faune, Satyrn, Hundsköpfige, vierzig Ellen große Giganten, Einäugige, Kyklopen, den Vogel Phönix, im Feuer lebende Salamander usw. Und eine Reihe furchterregender Völkerschaften mit kannibalischen Eigenschaften, darunter die aus der Bibel bekannten Gog und Magog, die laut dem Neuen Testament (Offenbarung 20, 7 – 10), nachdem das tausendjährige Friedensreich des Messias an sein Ende gelangt ist, von Satan persönlich in den Endkampf gegen die Heiligen und das Himmlische Jerusalem geführt werden, bis Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt. Das gesamte Mittelalter glaubte, Alexander der Große habe sie auf seinem Zug nach Indien zwischen den hohen Bergen vom Norden (von Indien her gesehen, also im Kaukasus) eingeschlossen. Alexander war die bekannteste antike Gestalt im Mittelalter. Letzteres hatte die lateinische Übersetzung des griechischen „Alexanderromans“ geerbt, eine stark ins Legendenhafte verformte Geschichte, und hatte sie in einer Reihe von Dichtungen weitergesponnen. Schließlich kam Alexander als Weltherrscher ja auch in der Bibel vor (Daniel 11,3; verschiedene Stellen des 1. Buches der Makkabäer). Der Priesterkönig Johannes ist in gewissem Sinne noch mächtiger als Alexander: Er kann diese wilden Völker nach Belieben gegen seine Feinde von der Leine lassen und hinterher wieder einsperren. In den Tagen des Antichristen werden sie zunächst über die ganze Welt hereinbrechen und wüten, bis sie das erwähnte Feuer vom Himmel verbrennt und nicht einmal Asche von ihnen bleibt. Ansonsten ist sein Reich, wie bereits gesagt, ein irdisches Paradies, in dem Milch und Honig fließen und schlaraffenlandähnlicher Überfluss herrscht. Der Priesterkönig hat die schönsten Frauen, aber er kommt nur viermal im Jahr mit ihnen zusammen, um Söhne zu zeugen. Und er verfügt über einen Spiegel, in dem er erkennen kann, was in seinem Reich für oder gegen ihn geschieht.
Der sich da „Herr der Herrschenden“ nennt, formuliert einen Anspruch auf Universalherrschaft als Stellvertreter göttlicher Macht. Er präsentiert sich als Champion der Christenheit, als Streiter gegen die Ungläubigen und als apokalyptische Gestalt. In der Epoche der Kreuzzüge, in der die europäischen Mächte erbittert mit den islamischen Staaten rund um das Mittelmeer vor allem um den Besitz Palästinas rangen, wo der Stifter der christlichen Religion gelebt und gewirkt hatte und wo er gekreuzigt und begraben worden war, musste ein geradezu übermächtiger christlicher Herrscher gleichsam im Rücken des Islam als potentieller Verbündeter höchst willkommen sein. Und die apokalyptischen Züge konnten ihre Wirkung nicht verfehlen in einem geistigen und emotionalen Klima, in dem man an das nicht so ferne Ende der Welt glaubte, an die Wiederkehr Christi, das Weltgericht und die Herabkunft des himmlischen Jerusalems, welches als Pendant zum Garten Eden galt. Dazu kamen die vielen exotischen Tiere und Völker mit ihrem hohen – sagen wir es mal zeitgemäß – Unterhaltungswert, die übrigens antiken und mittelalterlichen Quellen entstammen, von den bereits erwähnten Alexander-Überlieferungen über die „Naturgeschichte“ des Plinius (23 oder 24 bis 79 n. Chr.) oder die „Wunder der Welt“ des Solinus (Mitte des 4. Jhd. n. Chr.) Nicht zuletzt diente der Brief auch politisch-moralischen Zwecken: Er hielt dem Empfänger, den er nicht unbedingt höflich ansprach, das Bild eines wahrhaft christlichen Herrschers vor, das Manuel nach Meinung des Verfassers anscheinend nicht war.
Der Brief des Presbyters ist eine literarische Fiktion. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er in Mitteleuropa verfasst. Bezeichnenderweise ist er nur in lateinischer Sprache überliefert, obwohl in Byzanz, an dessen Kaiser er doch gerichtet war, Griechisch gesprochen wurde. Der herablassende bis beleidigende Ton, den der Priesterkönig dem Kaiser gegenüber anschlägt, spricht für eine antibyzantinische Tendenz – die Beziehungen zwischen den Ländern des katholischen Europa und dem orthodoxen Byzanz waren meist sehr gespannt. Er kann aber auch, wie der Historiker Bernard Hamilton meint, das Produkt der Auseinandersetzung zwischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa und dem Papst Alexander III. sein, denn er zeichnet ein christliches Utopia, in dem die Kirche deutlich dem Reich unterstellt ist (Hamilton, S. 256).
Das Ganze machte Furore. Bald kursierten Handschriften, denen zufolge der Brief auch den Kaiser des Heiligen Römischen; Reiches und den Papst als Adressaten hatte. Sie waren nicht alle deckungsgleich – viele enthielten Passagen, die in anderen fehlten, was für das Mittelalter nicht ungewöhnlich ist. Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert haben sich rund 200 Handschriften erhalten, desgleichen Übersetzungen in europäische Volkssprachen und 14 frühe Drucke. Aber welche Stütze hatte der Brief in der Realität? In Asien, etwa in Syrien, Mesopotamien, Persien, Zentralasien, China und Indien, gab es zwar seit Jahrhunderten christliche Gemeinschaften, die so genannten Nestorianer, die eine sowohl von der byzantinischen Orthodoxie als auch vom römischen Katholizismus unabhängige Kirche bildeten. Einen christlichen Monarchen von derart übermenschlichen und märchenhaften Proportionen hat es allerdings niemals gegeben, auch nicht in den Legenden der orientalischen Christen. Allenfalls einzelne Elemente können aus dem Osten gekommen sein, vielleicht durch Pilger nach Jerusalem getragen, wo Angehörige vieler Völkerschaften aufeinander trafen. Der Priesterkönig Johannes aber ist eine europäische Kreation der Zeit der Kreuzzüge, die den aktuellen Bedürfnissen entsprach. Deshalb wurde sein Brief auch ernst genommen.
1177 antwortete Papst Alexander III. auf besagten Brief. Eine merkwürdige Antwort, denn sie geht im Grunde auf kein Thema ein, das der Priesterkönig ansprach: Der Papst ermahnt ihn, in Glaubenssachen sich voll und ganz nach der katholischen Lehre zu richten und sich so gewissermaßen Rom zu unterstellen. Die orientalischen Kirchen wichen und weichen zumindest in einigen Punkten von den Glaubenssätzen der westlichen lateinischen Christenheit ab, was ja auch für die orthodoxen Kirchen gilt, und die katholische Kirche war immer bestrebt, bei der Bemühung um die (Wieder-)Vereinigung mit ihnen möglichst nichts von den eigenen Glaubenssätzen preiszugeben. Die Antwort ist, wie Hamilton formuliert, eine Übung in öffentlicher Propaganda (Hamilton, S. 257).
Von Indien nach Zentralasien
Neue Brisanz erhielt der Priesterkönig Johannes – bzw. die Hoffnung, die man im Abendland mit ihm verband – in der Zeit des insgesamt desaströs verlaufenden 5. Kreuzzugs, den Papst Innozenz III. 1213 proklamierte und der 1229 mit der Rückgabe Jerusalems an die Kreuzfahrer endete, die Kaiser Friedrich II. mit dem ägyptischen Sultan al-Kamil ausgehandelt hatte, die aber nur etwa 15 Jahre Bestand haben sollte. Im Osten gebe es viele christliche Könige bis hin zum Reiche des Johannes, die den Kreuzfahrern helfen wollten in ihrem Kampf gegen die islamischen Herrscher. Das schrieb einer der erfolgreichsten Kreuzzugsprediger, Jakob von Vitry, seit 1216 auch Bischof von Akkon im heutigen Israel. Ein Inderkönig David, Priester Johannes genannt, habe das Perser- und die umliegenden Reiche unterworfen und sich mit dem Kalifen von Bagdad über den Wiederaufbau Jerusalems besprochen. Aber die Hoffnung trog. In der Realität war ein neuer politischer Faktor aufgetaucht: Dschingis Khan. Ganz Europa war offenbar der Meinung, es handele sich um einen Christen – in Europa wusste man nahezu nichts über die Mongolen und hielt ihr Fahnenemblem für ein Kreuz, obwohl es sich um einen Falken handelte. Unversehens war der Priesterkönig Johannes von Indien nach Zentralasien gewandert. Dass Dschingis Khan und seine Mongolen keineswegs Johannes und sein Heer waren, merkte man in den 1230er Jahren, als die Mongolen christliche Russen, Polen und Ungarn bekriegten. Nun erschienen sie als unmenschlich und grausam, als Ausgeburten der Hölle. Die eigentlich unrichtige Bezeichnung „Tataren“ für Dschings Khans Mongolen wurde zu „Tartaren“ verballhornt, zuerst wohl durch den französischen König Ludwig IX. (1214-1270), um ihre Herkunft aus dem „Tartaros“ (in der griechischen Mythologie ein Teil der Unterwelt, christlich interpretiert die Hölle) sprachlich zu unterstreichen.
„Tartaren“ nannte auch Alberich von Troifontaine die Mongolen in seiner um 1251 entstandenen Weltchronik. Er gab darin zugleich der Johannes-Legende eine neue Wendung. Bei ihm sind die Tartaren, ein wildes und barbarisches Volk, ursprünglich Untertanen des Priesterkönigs, und kämpfen für ihn gegen Perser und Meder. Dann aber töten sie ihn, beherrschen anschließend große Teile seines Reiches und usurpieren gewissermaßen seinen Namen: Sie nennen nun ihre Herrscher Johannes. Oder – so eine andere Variante – David, der Sohn des Priesterkönigs und König der Inder, sei von Dschingis Khan besiegt worden und dieser habe seine Tochter geheiratet. Die Entwicklung der Legende spiegelt eine politische Enttäuschung – der Helfer gegen den Islam, den man zu sehen gemeint hatte, erwies sich selbst als Feind. Und der Priesterkönig verlor seine Überlebensgröße und wurde mehr oder weniger ein normaler Herrscher. In der Realität versuchte man freilich, sich mit einigen feindlichen Mächten zu arrangieren, um gegen andere vorgehen zu können.
Als 1244 die ägyptischen Mamlucken Jerusalem erobert hatten, schickte Papst Innozenz IV. einen Gesandten zu den islamischen Fürsten von Baalbek ( im heutigen Libanon) und Homs (in Syrien), die den Ägyptern botmäßig waren, um ihre Unterstützung gegen ihre Oberherren zu gewinnen. Auch die Mongolen sollten dafür gewonnen werden, aber die genannten Fürsten lehnten es ab, die päpstliche Gesandtschaft zu ihnen weiterzuleiten. Ziel des Papstes war es gewesen, die Mongolen von weiteren Angriffen auf das Abendland abzuhalten und, wenn möglich, sie zum Christentum zu bekehren – das missionarische Element war in der päpstlichen Realpolitik immer präsent. Andere Gesandtschaften erreichten die Mongolen doch. Johannes de Plano Carpini überbrachte dem Groß-Khan Göjük ein päpstliches Schreiben mit der Forderung nach Einstellung der Angriffe auf Europa, bekam aber die Gegenforderung präsentiert, der Papst und die europäischen Herrscher ihrerseits sollten sich dem Groß-Khan bedingungslos unterwerfen. Das Hauptziel erreichte Johannes de Plano Carpini also nicht, aber er lieferte einen der ersten ethnologischen Berichte über die Mongolen. Auch bei ihm kommt der Priesterkönig vor, und er rettet gewissermaßen die Legende: Er lässt ihn Dschingis Khan besiegen.
Auch im Mittelalter waren nicht alle Menschen süchtig nach Legenden. Eine dieser Ausnahmen ist der Franziskaner Wilhelm von Rubruk, der 1252 im Auftrag des französischen Königs Ludwig IX. in die mongolische Hauptstadt Karakorum reiste und von Möngke Khan, dem dritten Nachfolger Dschingis Khans, empfangen wurde. An einem gemeinsamen Kampf mit den Europäern gegen die Moslems, für den ihn Ludwig IX. hatte gewinnen wollen, war Möngke bei seiner toleranten Haltung allen Religionen gegenüber nicht interessiert, und Rubruk stellte bald fest, dass eine katholische Missionierung der Mongolen wenig aussichtsreich war. Dafür verfasste er einen äußerst wertvollen und verlässlichen Bericht über sie. Der Priester Johannes fehlt darin nicht, aber hier ist er nur ein mächtiger Hirte, ein Angehöriger des Volkes der Naiman, das in der Steppe Zentralasiens lebte. Wie viele seiner Landsleute war er ein nestorianischer Christ.
Wilhelm von Rubruk, der die Nestorianer nicht mochte, fand das, was er von ihnen über den Priesterkönig und seine Bedeutung offenbar hörte, maßlos übertrieben. Immerhin wird auch sein Johannes zum König erhoben, stirbt aber, und sein Bruder Unc folgt ihm als Herrscher. Unc, der sich selbst als Khan bezeichnet, ist kein Nestorianer, sondern „Götzenanbeter“. Da er Dschingis Khan seine Tochter nicht zur Frau geben will, bekriegt ihn dieser, schlägt ihn und heiratet sie dann. Diese Variante zeigt besonders gut, wie sich Reales und Legendarisches mischen. Denn die Naiman waren ja tatsächlich mehrheitlich nestorianische Christen. Hinter dem Unc Khan verbirgt sich Toghril bzw. Toghrul, der die ebenfalls nestorianischen Keraiten anführte und vom chinesischen Kaiser den Titel Wang Khan (Groß-Khan; Ong- bzw. Ung Khan sind andere Lesarten) erhalten hatte. Welchem Glauben der historische Toghril anhing, ist ungewiss. Zunächst mit Dschingis Khan verbündet, verfeindete er sich mit ihm und wurde von ihm besiegt. Dschingis Khan heiratete in der Tat Toghrils älteste Nichte.
Der Priesterkönig Johannes als legendäre Gestalt überlebte die Nüchternheit Wilhelm von Rubruks, im Großen und Ganzen freilich in deutlich reduzierter Statur. In manchen Varianten der Legende ist er ein Vasall der Mongolen. Marco Polo (1254-1324) berichtet, dass Nachkommen des Priesterkönigs, die zusätzlich zu ihren individuellen Namen den Titel „Presbyter Johannes“ führen, als „Provinz-Könige“ von Gnaden des Groß-Khans in der chinesischen Region Tenduk herrschen, die in der Inneren Mongolei vermutet werden kann, nördlich der von Marco Polo übrigens niemals erwähnten Großen Mauer. Ursprünglich, so Marco Polo, waren die Tataren (sprich: Mongolen) Vasallen des Priesterkönigs, den sie in ihrer Sprache Ung-Khan (großer Herr) nannten. In einer Kaskade von Ereignissen, deren Historizität wohl kaum zu überprüfen ist, sei Johannes schließlich von Dschingis Khan unterworfen und seine Nachfahren seien somit auf ihren heutigen Status reduziert worden. Der Name des jetzigen Herrschers laute Georg. Es scheint diesen christlichen Provinzfürsten übrigens wirklich gegeben zu haben. Johannes de Monte Corvino, der als päpstlicher Gesandter beim Groß-Khan etwa zeitgleich mit Marco Polo in China weilte, will ihn getroffen und vom Nestorianismus zum Katholizismus bekehrt haben. Georg habe daraufhin eine Kirche bauen lassen. Sein Sohn und Nachfolger aber sei Nestorianer geblieben. Die Reste der Kirche sind übrigens ausgegraben worden.
Im 13. Jahrhundert wussten nicht nur Reisende vom Priesterkönig Johannes zu erzählen: Dichter brachten ihn in Verbindung mit dem Gralsmythos. In Wolfram von Eschenbachs Versepos „Parzifal“ (um 1170 bis 1220) ist er der Sohn des getauften Heiden Feirefiz – des Halbbruders des Titelhelden – und der Gralsträgerin Repanse de Schoye, in Albrecht von Scharfenbergs „Jüngerem Titurel“ wird der Gral letztlich aus dem verderbten Abendland nach Indien, in das reine, paradiesisch-utopisch gezeichnete Reich des Priesterkönigs verbracht. Albrechts Johannes ist ebenso märchenhaft mächtig, wie er sich in seinem eingangs erwähnten Brief zeichnet, und er schützt die Christenheit gegen die Ismaeliten, also gegen Moslems. Der angebliche Reisebericht des englischen Ritters Sir John Mandeville – eine geschickt gemachte Fiktion, die zum Bestseller des 13. Jahrhunderts wurde – beutet noch einmal den vorgeblichen Brief des Priesterkönigs gründlich aus. Unfrommer geht es dann in der englischen Renaissance-Dichtung zu. In Richard Johnsons „Tom á Lincoln“ (1. Teil 1599, 2. Teil 1607) brennt ein unehelicher Sohn des Königs Artus mit der Tochter des Priesterkönigs Johannes durch, und in dem gleichnamigen Drama, das zwischen 1607 und 1616 wahrscheinlich von Thomas Heyward verfasst wurde, begeht ihre Mutter darob Selbstmord und Johannes stirbt aus Kummer. Dass der Priesterkönig noch bis ins 20. Jahrhundert gelegentlich als literarische Gestalt figuriert, etwa in Umberto Ecos Roman „Baudolino“, (2000), sei nur am Rande erwähnt.
Majestät ziehen wieder um …
Im 14. Jahrhundert wechselt der Priesterkönig wieder das Land: Er wandert nach Äthiopien, wo er fortan verbleiben wird. Das kann durchaus einen realen Hintergrund haben: Zentralasien und Persien waren islamisch geworden und somit als Habitat für Johannes nicht mehr geeignet. Äthiopien hingegen war ein christliches Reich, wenngleich die dortigen Christen nicht katholisch, sondern mit der koptischen Kirche Ägyptens verbunden waren. Viel mehr als Legendäres und Phantastisches wussten die Europäer zunächst freilich nicht über dieses Land, mit dem sie allenfalls durch äthiopische Jerusalem-Pilger u. ä. in Berührung kamen. Giovanni da Carignano will um 1306 in Genua von Äthiopiern erfahren haben, ihr Patriarch sei der „Presbyter Johannes“, ein mächtiger Herrscher, der dem spanischen König seine Hilfe gegen die Ungläubigen angeboten habe.
Spätere Versionen der Legende sprechen davon, dass Johannes das Wasser des Nil sperren könne, weshalb er dem ägyptischen Sultan nicht tributpflichtig sei. Die minimalen Kenntnisse der Europäer erlaubten es, den Priesterkönig Johannes wieder zu einem (über-)mächtigen Herrscher zu machen. Im 15. Jahrhundert freilich begann sich das zu ändern. Europäische Reisende gelangten vereinzelt nach Äthiopien; die Erkenntnis, dass Indien und Äthiopien doch recht weit auseinanderliegen, setzte sich teilweise durch, und zumindest bisweilen gelangte man zu der Erkenntnis, dass „Priesterkönig Johannes“ gar kein Titel der äthiopischen Herrscher war, sondern eine Fremdbezeichnung. Was andererseits nicht verhinderte, dass sie weiter gebraucht wurde. Zum Konzil von Florenz (1439-1443), das eine weitgehende Vereinigung aller christlichen Gruppen anstrebte, erging auch eine Einladung an den „Presbyter Johannes“, den berühmte König und Kaiser Äthiopiens. In der Tat nahmen dann auch äthiopische Christen teil. Freilich führten die Bemühungen um die Einigung der Kirchen und um den gemeinsamen Kampf gegen den Islam nicht zum Erfolg.
Insgesamt brachte das 15. Jahrhundert verstärkte Kontakte zwischen Europa und Äthiopien mit sich, die genauere Kenntnisse über Land und Leute im Gefolge hatten. Die wichtigste Rolle bei diesen Kontakten spielten die Portugiesen. Sie hatten begonnen, die afrikanischen Küsten zu erforschen – und nach dem Priesterkönig Johannes zu suchen, der so schwer zugänglich war. Man hoffte, ihn als Verbündeten im Kampf gegen den Islam zu gewinnen – und hatte handfeste wirtschaftliche Interessen im Blick. Portugal wollte den Handel mit Gold, Sklaven, Getreide, Elfenbein und Gewürzen in seine Hand bringen. Direkte Kontakte zu den äthiopischen Herrschern kamen zustande, die zeitweise recht intensiv waren – so leistete Portugal ab 1525 Militärhilfe im Kampf Äthiopiens mit dem islamischen Emirat Havar. In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts freilich kam es dann zum Bruch: Die Bemühungen vor allem portugiesischer Jesuiten, die koptischen Christen Äthiopiens zum Katholizismus zu bekehren sowie die Versuche, das Land zu dominieren, führten dazu, dass die Fremden ausgewiesen wurden. Das ist primär ein Teil der Entdeckungs- und Kolonialgeschichte. Mit der Legende vom Priesterkönig Johannes hat es nicht mehr viel zu tun. Deren legendarisches, mythisches, erzählerisches Potenzial hatte sich offenkundig erschöpft …
Ein Beitrag von Christoph Sorger
Literaturhinweise:
Barber, Richard: The Holy Grail. London: Penguin 2005.
Hamilton, Bernard: Die christliche Welt des Mittelalters. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler 2004.
Knefelkamp, Ulrich: Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs Johannes. Gelsenkirchen: Müller 1986.
Wittkower, Rudolf: „Die Wunder des Ostens“. In: Ders. Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln: DuMont 1983.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Irre, dass es immer solche gesellschaftlichen Halluzinationen gibt, die am Horizont erscheinen und großen Einfluss haben. Danke für diese historische Aufarbeitung!
Elmar Schenkel