Die Sámi. Das Sonnenvolk aus dem Norden

Die Sámi und ihr Sápmi

Hoch oben im Norden, dort, wo im Winter die Sonne nicht auf- und im Sommer nicht untergeht, leben die Sámi, das letzte indigene Volk Europas. Sápmi heißt ihr Siedlungsgebiet, das sich über Norwegen, Schweden, Finnland bis zur russischen Kola-Halbinsel erstreckt. Sápmis Landschaft ist von vielfältiger und scheinbar unbegrenzter Wildnis geprägt, in der sich die Natur von einer ganz atemberaubenden Seite zeigt: Raue Fjälls, sumpfige Wälder, reißende Flüsse, stürzende Wasserfälle und unzählige Seen bestimmen die nördliche Gegend, die sich in der kalten Jahreshälfte zu einer weißen Winterwelt aus Eis und Schnee verwandelt, unter der alles ruht. Am Himmel hingegen tanzen die Nordlichter, die nach sámischem Volksglauben Erscheinungen der Ahnen sind. Sápmi ist aber mehr als nur Land. Es steht für ein holistisches Selbstbild, das für Außenstehende kaum greifbar wird – oder wie der Schweizer Künstler Hans Ulrich Schwaar, der viele Jahre im finnischen Lappland gelebt hat, es formuliert: Sápmi „lässt sich nicht übersetzen. Deshalb weiß nur ein Same, was das Wort im Grunde bedeutet. Es umfasst alles, was dem Samen lieb ist: sein Land, sein Volk, seine Kultur. Alles, was den Samen von anderen Menschen unterscheidet, ist Sápmi: seine Sprache, seine Denk- und Lebensart, seine Tradition“ (Schwaar 1996, 9).

Die Religion der Sámi

Über die alte Religion der Sámi ist nicht viel aus erster Hand überliefert, da die Sámi ihre Wissensschätze mündlich tradierten. Zu den wichtigsten Quellen zählen daher vor allem Missionsberichte aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die natürlich kein objektives Bild zeichnen. Die Sámi selbst sind heute bemüht, ihre traditionellen Relikte zu sammeln, ihre traditionsreiche Geschichte zu rekonstruieren und wieder zu einer kultur- und identitätsstiftenden Säule werden zu lassen (vgl. Lehtola 2002, 57). Lange Zeit wurden sie von religiöser wie politischer Seite unterdrückt. Mit der Christianisierung, die in norwegischen Teilen Sápmis bereits im 13. Jahrhundert begann und sich bis ins 19. Jahrhundert zog, mussten die Sámi erstmals einen gewaltsam erzwungenen Traditionsbruch erfahren: Ihre Mythen, Rituale, ihre profanen wie religiösen Joiks, spontane Gefühlsgesänge, wurden verboten, ihre heiligen Stätten entweiht und die ihnen heiligen Trommeln zerstört (vgl. Kent 2014, 85-103, vgl. auch Hirvonen 2006, 448). Auch vom Hexenwahn blieben die Sámi nicht verschont. Einige, wie etwa der Noiadi Lars Nilsson, fielen dem Scheiterhaufen zu Opfer, weil sie nicht von ihrem ‚teuflischen‘ Glauben abrücken wollten. Auch von politischer Seite wurden die Sámi als ethnische Minderheit im Zuge der Nationalisierungen der nordischen Staaten im 19. Jahrhundert an den existentiellen Rand gedrängt. Zudem war man bestrebt, die ‚Primitiven‘ zu zivilisieren, indem man ihnen eine ‚richtige‘ Kultur und vor allem auch eine ‚richtige‘ Sprache oktroyierte; das Sprechen der sámischen Sprache wurde verboten. Als später die Sowjetunion sámische Gebiete erreichte, wurde dieses „Erziehungsprogramm“ (Spinnler-Dürr 2020, 36) in einem anderen Gewand fortgeführt (zur repressiven Geschichte der Sámi vgl. Kent 2014, bes. 23-64; vgl. auch Lehtola 2002, 28). Wenngleich mit der Verdrängung der sámischen Kultur, die sich über mehrere Jahrhunderte zieht, auch ein großer Teil des traditionellen Wissens in das vergessene Gedächtnis gerückt ist, so lassen sich doch aus den Relikten Kernelemente der altsámischen Religiosität erschließen.

Die traditionelle Religion der Sámi könnte man als Animismus, Pantheismus, Polytheismus oder auch – und dies trifft es auf Grund der Aspekte, die zusammenkommen, vielleicht am besten – Schamanismus bezeichnen (vgl. Kent 2014, 79f., vgl. auch Höffgen 2020, 8f.). Die Welt gilt ihnen als ein durch und durch beseelter Ort. Sie kennen eine Oberwelt des Himmels, in der das Pantheon lebt, eine Mittelwelt der Erde, in der die Menschen siedeln, und eine Unterwelt, die Heimat der Geistwesen. Zwischen diesen Welten vermittelt der Noaidi (nordsam.), der sámische Schamane und Hexenmeister, um die Harmonien zwischen den Welten zu wahren. Das wichtigste Werkzeug und Symbol des Noaidi ist seine Trommel (nordsam. goavddis), mit der er sich in Trance versetzt, seine heiligen und heilenden Gesänge begleitet, sich zwischen den Welten bewegt und – wo es notwendig ist – das disharmonische Chaos wieder in eine harmonische Ordnung verwandelt. Die Trommel des Noaidi ist ein magisches Instrument und „expression of the Sámi cosmological, cultural, and spiritual world picture“ (Helander-Renvall 2016, 84). Ein Charakteristikum der sámischen Schamanen-Trommel ist ihre mit archaischen Symbolen und Bildern geschmückte Rentiermembran, in dessen Zentrum sich häufig ein ganz bestimmtes Zeichen befindet: das Sonnensymbol (zur sámischen Trommel vgl. auch Manker 1938/1950).

Die Erzählung vom Sonnenvolk

In der sámischen Mythen- und Sagensammlung Sápmi (1996) von Schwaar findet man die mythisch-märchenhafte Erzählung von dem Sonnenvolk, die vor allem in schwedischen Teilen Sápmis variantenreich Einzug in die Folklore gefunden hat (vgl. auch Spinnler-Dürr 2020, 38f.): Einst, als die Welten noch vermischt waren, fühlte sich Jubmel, der höchste Gott unter den Göttern, von dem Gepolter der umherschwirrenden Geistwesen gestört. Bejve, Sohn des Jubmel und Bruder des Mondgottes Mano, kam seinem Vater zu Hilfe, um eine neue Welt zu schaffen, die die Welt der Götter von der der Geister trennte. Aus der lieben und treuen Renkuh Jubmels schufen sie die Mittelwelt: Ihre Knochen wurden zum Fundament, ihr Fleisch zu Land, ihre Adern zu Flüssen, ihr Fell wurde zum Wald; ihr Kopf wurde zum Himmelsgewölbe, ihre Augen zum Morgen- und Abendstern, der dem Wanderer seinen Weg weisen soll (– ein Motiv, dass auch aus der nordischen Mythologie bekannt ist; dort wird aus dem Urriesen Ymir die Erde geschaffen). Zum Dank überließ Jubmel seinem Lichtsohn die neu geschaffene Mittelwelt. Dies war die goldene Zeit der Mittelwelt, an der sich nicht mehr nur die Götter erfreuen sollten. Und so schuf Bejve die Brüder Attjis und Njavvis, seine Sonnensöhne. Mano, von Neid ergriffen, säte Zwietracht unter den Sonnensöhnen, sodass Attjis seinen Bruder verließ. Njavvis sang Klagelieder über seine Einsamkeit, die Bejve hörte und von denen er so ergriffen war, dass er eine seiner reinen Tränen vergoss. Jubmel nahm die Träne Bejves, nahm dazu sein sonniges Lächeln und erschuf daraus die schöne Sonnentochter Njavvis-ine, die Njavvis ein erfülltes und glückliches Leben bescherte. Auch Attjis erhielt von Mano eine Frau, die jedoch aus boshaften Zauberworten erschaffen wurden und für den Tod Navvis und der Verbannung Attjis sorgte. Den verbannten Attjis kann man, so die sámischen Erzählungen, noch heute sehen: Wenn Vollmond ist, erkennt man ihn dort, wie er da mit seinem Geweih in der Hand sitzt – er wurde nämlich, im wahrsten Sinne des Wortes, ‚auf den Mond geschlossen‘ (vgl. Schwaar 1996, 35-44).

In den schlechtesten Zeiten der Mittelwelt, in der die dunkle Mondsippe herrschte, wurden die letzten Sonnenkinder, Batje und Nanna, zum Fjäll des Sonnengottes geführt. Er versetzte sie in einen tiefen Schlaf, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Bejve sang einen Joik über die Sonnenkinder, in dem vom Schatz des Sonnenvolks berichtet wird: Dieser liege ganz in der Nähe des immerschlagenden Herzens der Renkuh, tief im Inneren der Erde, und bewahrt das Gute aus der archaischen goldenen Zeit. Während Bejve die Welt schamanengleich wieder neuausrichtete, wachte Navvis-ine über die Kinder. Als alles vollbracht war, küsste sie sie wach. Batje und Nanna zogen von dann an durch die Welt, erst geschwisterlich suchend nach Gefährten, dann als Paar, von dem die Nachkömmlinge des neuen Sonnenvolkes abstammten. Da sie wieder in einer archaischen Zeit lebten, weihte die Sonnentochter sie in die wichtigsten Kulturtechniken der Sámi ein (vgl. ebd., 49-56).

Die Sonne ist für das zirkumpolare Volk nicht nur Symbol des Lichtes und der Wärme, sondern ein Symbol des Lebens und der Existenz. Es verwundert daher kaum, dass die Sámi aus mythogenealogischer Perspektive Nachfahren der Sonnenkinder sind. Der sámische Dichter Anders Fjellner hat eine der vielen Varianten der Sonnenmythen 1876 in dem Langpoem Peiven Parneh („Die Söhne der Sonne“) aufgegriffen (vgl. dazu auch Hirvonen 2006, 450). Diese mythologische Dichtung, die über den sámischen Raum bekannt wurde, hat auch die Künstlerin Astrid Båhl zu der von ihr entworfenen sámischen Flagge inspiriert, in der das ausgeprägte Naturbewusstsein zum Ausdruck gebracht wird: Die in den traditionellen Symbolfarben Rot (Feuer), Grün (Natur), Gelb (Sonne) und Blau (Wasser) gehaltene Flagge trägt einen rot-blauen Kreis von dreifacher Bedeutung, der Natur und Kultur verschmelzen lässt: Er repräsentiert die Sonne, den Mond und gleichsam die Noiadi-Trommel.

Göttinnen der Sonne und des Feuers

Schon in der älteren sámischen Mythologie, wie man sie aus den verblieben Quellen rekonstruieren kann, ist die Sonne mit den Aspekten des Lichtes, der Heilung, Wärme und Fruchtbarkeit verbunden (vgl. Joy 2020, 104). Anders als in den märchenhaften Erzählungen vom Sonnenvolk kennt man die ältere Sonnengottheit meist in weiblicher Gestalt. Beiwe (auch Beaivi, Bievve, Beivve oder Biejje; Beaivvas in maskuliner Vorstellung) heißt die Sonne, deren Namen auch die Sonnengöttin trägt. Auf den traditionellen Noaidi-Trommeln, die noch erhalten sind, steht das Sonnensymbol meist im Zentrum: eine Raute, von deren Ecken aus vier Linien verlaufen. Die vier Linien werden Beiwe labtje, die „Zügel der Sonne“, genannt und repräsentieren ihre Kraft, auf die vier Windrichtungen zu wirken. Es heißt auch, dass die Sonne weiße Geschöpfe schaffen könne, die den Sámi als heilige Wesen galten (vgl. Laestadius 2002, I, 77).

In die Nähe der Sonnengottinnen rückt auch Sáráhkká, die Göttin des Herdes, die eine sehr diesseitige Göttin ist, schließlich steht das Herdfeuer im Mittelpunkt des traditionell-sámischen Lebens: Das in alten Zeiten nomadisch umherziehende Volk behauste – ganz ähnlich wie man es von den Native Americans kennt – Tipis bzw. Koten, die, je nach Typ, im Nordsámischen Lávvu oder Goahti heißen. Inmitten der Koten befindet sich die Feuerstelle, die für Wärme sorgt und die Nahrungszubereitung erleichtert. Das Herdfeuer bildete das Zentrum des Lebens und des Alltags, spendete Wärme und Sicherheit und hatte dadurch Anteil an der Kraft, die von Beiwe ausging. Das Herdfeuer war zugleich auch als Sitz der Sáráhkká gedacht, die von dort aus über die Sippe wacht (vgl. Westman 1997, 31f.). Sie stand aber auch den werdenden Müttern, ebenfalls den Rentier-Müttern, besonders nahe und schützte die Gebärende wie das Geborene. Sáráhkká ist es nämlich auch, die den Kindern die Seele gab (vgl. Gaski 2019). Beiwe wie Sáráhkká sind der Áhkká, der mythologischen Urmutter, daher sehr ähnlich und tragen ihre mütterlich-schöpferischen Aspekte weiter (vgl. Joy 2020, 105). Den Namen „Áhkká“ („alte Frau“) kennen übrigens die meisten: Akka von Kebnekaise ist die Anführerin der Wildgänse, mit der Selma Lagerlöf ihren kleinen Nils Holgersson auf eine wunderbare Reise schickt.

Dass der Sonne innerhalb der traditionellen Mythologie und Religion der Sámi, wie auch anderer zirkumpolarer Völker, ein hoher Stellenwert zukommt, ist angesichts der extremen Nordlage kaum erklärungsbedürftig. Und so lässt sich auch die Erzählung vom Sonnenvolk als naturmythologische Spiegelung der beiden Jahreshälften lesen: In der einen Hälfte, der goldenen Zeit, herrscht die belebende Sonne mit ihrem schöpferischen Aspekt, in der anderen der eisige von Finsternis umgebene Mond, mit seinem destruktiven Aspekt.

Mittsommer, das nordische Fest zur Sommersonnenwende

Mitte Juni befindet sich Sámpi – wie ganz Skandinavien – in einem Ausnahmezustand: Es ist die Zeit des Mittsommerfestes, das mit allerhand Brauchtümern begangen wird und vor allem in Schweden noch urigen Charakter hat: Die buntgeschmückte Majstång (die ‚Blumenstange‘, nicht ‚Maistange‘) wird gen Himmel aufgerichtet und mit Spiel und Gesang umtanzt, es wird viel gegessen und getrunken. Zu manch später Stunde mag der ein oder andere sicherlich auch einen Trolle oder eine Elfen sehen, die sich ja vor allem zu solchen außergewöhnlichen Zeiten zeigen sollen. Das Sommersonnenwendfest wird aber mit einem lachenden und einem weinenden Auge gefeiert: Zur Sommersonnenwende erreicht die Sonne ihren höchsten Punkt und strahlt in einem permanenten Glanz, man redet von den „weißen Nächten“. Von nun an zieht sie sich aber auch wieder langsam zurück. Die Tage werden kürzer, das Licht weniger, die Wärme schwindet, der harte Winter, die Zeit, in der Mano wieder herrscht, naht. Nun gilt es, die Wintersonnenwende zu überstehen. Der tiefste Punkt der kühlen Dunkelheit ist dann erreicht, die Sonne zeigte sich langsam wieder am Horizont, das lebensspendende und wärmende Licht füllte wieder die Tage, die Landschaft zeigt langsam wieder ihr grünes Kleid – die liebste Zeit der Sonnenkinder.

Zur Sommersonnenwende 2021

Ein Beitrag von Nicole Höffgen


Literaturhinweise:

Gaski, Harald (2019): Samisk Religion. In: Store Norske Leksikon (https://snl.no/samisk_religion, 21.06.2021).

Kent, Neil (2014): The Sámi People oft he North. A Social and Cultural History. London.

Helander-Renvall, Elina (2016): Sámi Society Matters. Rovaniemi.

Hirvnonen, Vuokko (2006): Saamische Literatur. In: Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literatur. Stuttgart/Weimar, S. 447-462.

Höffgen, Thomas (2020): Schamanismus bei den Germanen. Götter – Menschen – Tiere – Pflanzen. 4. Aufl. Remda-Teichel.

Joy, Frances (2020): The Importance of the Sun Symbol in the Restoration of Sámi Spiritual Traditions and Healing Practice. In: Tiina Äikäs/Trude A. Fonneland (Hg.): Sámi Religion. Religious Identities, Practices and Dynamics. Basel, S. 99-120.

Lehtola, Veli-Pekka (2002): The Sámi People. Traditions in Transition. Übers. von Linna Weber Müller-Wille. Aarnaar/Inari.

Laestadius, Lars Levi (2002): Fragments of Lappish Mythology (1838–1845). 3 Bde. Hg. von Juha Pentikäinen. Beaverton.

Manker, Ernst Mauritz (1938/1950): Die lappische Zaubertrommel. Eine ethnologische Monographie. 2 Bde. Stockholm.

Schwaar, Hans Ulrich (1996): Sápmi. Mythen und Sagen der Samen und ihr religiöser Hintergrund. Aus dem Norwegischen und Schwedischen übersetzt von Hans Ulrich Schwaar. Frauenfeld.

Spinnler-Dürr, Alice (2020): Mutter Erde, Sonnengott und das mythische Rentier. Die Mythen und Sagen der Samen. In: Märchenforum. Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur 88, S. 36-41.

Westman, Anna (1997): The Sun in Sámi Mythology. In: Acta Borealia. A Nordic Journal of Circumpolar Societies 14.2, S. 31-58.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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