Der MYTHO-Blog liest extra 1.0 – Spiegel und Scheibenwelten

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

die Leipziger Buchmesse bestreitet in diesem Jahr format- und veranstaltungstechnisch neue Wege und auch wir lesen in 2021 „extra“ bzw. reisen extra. Die Imaginären Welten der Literatur sind unser Ziel, Welten, die so vielfältig und spannend sind, dass uns die Auswahl wahrlich schwergefallen ist. Ob Kaninchenbau, Zeitreisen oder kuriose ritterliche Abenteuer: Nah-ferne Welten haben von jeher die Fantasie angeregt, und manchmal lassen sie sich ganz praktisch auf dem heimischen Sofa entdecken.

In diesem Sinne wünschen wir eine sichere Reise und viel Freude beim Lesen!

Ihr Team vom MYTHO-Blog

Der Fall in das Imaginäre: Alice im Wunderland und was sie hinter den Spiegeln fand

Ist dies ein Kinderbuch? Hat es sich vor allem in der Kultur gehalten, weil Erwachsene es befördert, gekauft und vorgelesen haben und dabei ihren Spaß hatten? Oder nur durch Disneys alchemistische Marktkunst? Wie dem auch sei: es lohnt sich, Alice im Wunderland in jedem Alter neu zu lesen. Als 8-10jähriges Kind wird man auf die Slapstick-Szenen achten, die Verwandlungen von Alice, von einem Baby in ein Schwein, man lacht über die Seemonster und die Frösche als Lakaien. Als Erwachsene genießen wir die Wortspiele und die Anspielungen auf zeitgenössische, viktorianische Sitten und Namen sowie auf den philosophisch-absurden Umgang mit Sprache, Zeit und Raum. Ob man in diesem Labyrinth einen Sinn findet, ist eine andere Frage. Denn dieses Buch konfrontiert mit der Sinnlosigkeit, die uns immer wieder anweht, im Alltag wie in der Philosophie und in der Suche nach dem, was dieses Universum hervorgebracht hat und verschwinden lassen wird. Ein Zauberer? Vielleicht – aber wohl einer wie der Autor Lewis Carroll, der diese Wunderwelten wie Seifenblasen in die Welt der nüchternen Vernunft und des gesitteten Denkens bläst. Und das gefällt den Kindern und denen, die solche im Geiste geblieben sind. Alice hat ein reales Vorbild, sie war die Tochter des Universitätsdekans Liddell und ihr wie anderen Kindern erzählte Carroll seine Geschichten über Alice. Alles begann wohl mit einer Bootsfahrt auf der Themse. Später wird er sich nostalgisch daran erinnern, er, der die Kindheit selbst wohl nie recht verließ, ewiger Junggeselle, in sein Hobby Fotografie ebenso vernarrt wie in kleine Mädchen, die er in erotisches Zwielicht setzte; heute wäre er der Pädophilie verdächtig. In den zwei Alice-Büchern findet sich nichts von diesem Zwielicht. Alice ist ein klarer Lichtblick unter den schrägen und knurrigen Figuren, die sie umgeben: nervöses weißes Kaninchen, gewalttätige Herzogin, Katze, die aus einem Grinsen besteht, ein Ritter, der immer vom Pferd fällt oder ein Monster in Spiegelschrift.

Welche Gestalt hat die imaginäre Welt in den Alice-Büchern? Im ersten Buch erreicht man sie durch einen Fall in ein Kaninchenloch, wobei man zuvor eingeschlafen sein sollte. Zuerst ist es ein Raum mit verschiedenen Türen und einem Tisch, auf dem sich eine Flasche befindet, die getrunken werden will. Später betreten wir einen Garten, das Haus einer Herzogin, den Strand, einen Gerichtssaal. Zwischen all den Räumen finden Verwandlungen statt. Vor allem Alices Größe ändert sich fortwährend. Die Flasche mit dem magischen Getränk, das die richtige Größe erzeugt, könnte sicherlich ein Hinweis auf Drogen sein. Und vieles in diesen Märchen klingt ja psychedelisch. Auch die schläfrige Raupe ist vom Haschisch umnebelt. Aber da ist noch etwas anderes. Sie spricht, sowohl im Tonfall als auch mit ihren Sätzen selbst, wie eine Maschine. Der Dialog zwischen Alice und Raupe könnte den zwischen menschlichem Gehirn und künstlicher Intelligenz widerspiegeln. Das Schachbrett im zweiten Buch deutet auf eine höhere Gesetzlichkeit, auf unbekannte Spieler, für die Alice und die Figuren nur Spielsteine sind. Das Ensemble der Alice-Buch-Phantasien spiegelt so die Welten wider, die der Autor Lewis Carroll (alias Charles Lutwidge Dodgson) hier als Text herausbringt: Philosophie/Theologie, Nostalgie/Sentiment und Mathematik. Alles verbunden durch die Sprache. Denn diese ist die eigentliche Heldin. Aus den Wortspielen, den puns, entstehen (wie bei Wittgenstein) philosophische Probleme: Was ist die Zeit eigentlich? Ist es ein Jemand? Ein Etwas? Oder warum werden die Unterrichtsstunden in der Seeschule immer weniger? Weil das englische Wort für Unterricht, lesson, auch wie lessen, also abnehmen, ausgesprochen wird. Die Aussprache ist es, die die Dinge umstellt, Grenzen überschreitet, Konzepte verschmelzt. Darin ist Alice ein Vorbild für Autoren wie James Joyce oder Vladimir Nabokov. Deshalb sollte man, wenn es irgend geht, das Buch auf Englisch lesen, und dann möglichst in der Annotated Edition von Martin Gardner. Auch wenn die Übersetzungen gut sein sollten, so können sie es doch nur partiell aufnehmen mit dem linguistischen Humor des Originals oder sie müssen diesen so verstellen, dass er nicht mehr kohärent ist.

Anders gesagt, es entgeht einem etwa die Hälfte aller Freuden, die die Alice-Bücher auch heute noch bereiten können: Stürze in wundersame Unterwelten, Verwandlungen durch Sprachspiel und Traum, Abenteuer auf dem Schachbrett und in einer Welt hinter den Spiegeln.   

Ein Beitrag von Elmar Schenkel


Literaturhinweise:

Lewis Carroll: The Annotated Alice. Definitive Edition. Annotations by Martin Gardner. London: Penguin 2001.

Dt. (u.a.): Alice im Wunderland, übers. von Christian Enzensberger, Frankfurt/M.: Insel TB 1973; Alice hinter den Spiegeln, übers. von Christian Enzensberger, Frankfurt/M.: Insel TB 1974.


Terry Pratchett und Jaqueline Simpson: Mythen und Legenden der Scheibenwelt

Wer kennt sie nicht, die seltsamen, schrulligen, gefährlichen, tapferen und manchmal etwas doofen und doch immer irgendwie liebenswerten Gestalten, die unsere Bücher, Filme und Computerspiele bevölkern und ihren festen Platz in den Mythen und Schöpfungslegenden der verschiedenen Kulturen der Menschheit haben. Wir glauben, sie sind der Kreativität und Fantasie der Menschheit entsprungen und halten sie teilweise für fiktiv oder in vergangenen Zeiten untergegangen und von der Erde verschwunden. Für uns gibt es sie nur noch in Märchen, in den verschiedenen nationalen Folkloren und nur noch lebendig in den antiken Epen über Götter und Helden oder in den Religionen.

Doch wer die zahlreichen Bücher von Terry Pratchett gelesen hat, der weiß: Es gibt sie alle noch immer. Sie bevölkern im Multiversum eine eigene Welt – die Discworld oder Scheibenwelt, eine Welt der Magie und der extremen Gegensätze. Anders als unsere kugelige Erde ist sie flach, ruht auf dem Rücken von vier riesigen Elefanten, die auf einer ungeheuer großen Sternenschildkröte stehen, und schwebt geruhsam durch die Unendlichkeit. Sie ist möglicherweise eine imaginäre Welt, aber wenn man ihre Bewohner, ihr Tun und Lassen, ihre Träume und Probleme betrachtet, erscheinen sie schon sehr irdisch und auch sehr real und zeitnah, oft auch mit verblüffenden Ähnlichkeiten zu einem selbst oder zu Menschen, die man kennt, oder die man manchmal lieber nicht kennengelernt hätte. Aber das ist nicht verwunderlich, denn das Multiversum besitzt Leckagen, durch die diese Wesen, ihre Taten, Anschauungen und Ideen in unsere Welt diffundieren können. Zum Glück allerdings spiegelverkehrt zu unserem irdischen „Gut und Böse“, was einen Abstand schafft, der es dem Leser erlaubt, die bizarren, mit feiner Ironie, scharfem Biss und einem schwarzen, typisch britischem Humor gewürzten Geschichten zu genießen.

Immerhin sind die Ereignisse der Scheibenwelt in über 36 Büchern überliefert – da ist es nicht so leicht, den Überblick über Orte, Zeiten und vor allem über die seltsamen Bewohner und ihre Eigenschaften zu behalten. So viele kuriose Charaktere, die mit ihren unverwechselbaren Eigenschaften die Scheibenwelt aufmischen und Chaos in bestehende Ordnungen bringen, unerschrockene Hexen, die sich mit skurrilen Weisheiten über Klischees lustig machen, Elfen und Feen, deren bösartige Taten einen zweifelhaften Fortschritt voranbringen, eine unsichtbare Universität mit ihren seltsamen Gelehrten, oder Gegenstände, die sich zu einem Eigenleben aufmachen. Genannt sei hier eine meiner Lieblingsgestalten: die Truhe. Als mobiles Gepäckstück, auf über hundert Füßchen trippelnd, und als anhänglichen Beschützer seines jeweiligen Besitzers konzipiert, zeichnet sie sich durch absolute Loyalität und gleichzeitig pure Mordlust aus. Wenn sie ihren Deckel öffnet, weiß man nie, was zum Vorschein kommt – von geraubtem Gold, schmutziger Wäsche oder scharfen Krokodilszähnen ist alles möglich. Der Deckel bleibt zu, wenn sie auf stur schaltet.

In dem Buch „Mythen und Legenden der Scheibenwelt“ lud der Fantasy-Autor Terry Pratchett die Wissenschaftlerin und Expertin für englische und nordische Folklore Jaqueline Simpson ein, gemeinsam auf eine wichtige Quelle seiner Inspirationen zu schauen: die Mythen vieler Völker aus alten und neuen Zeiten aus Europa, Asien und Amerika, auf ihren Nachhall in unserer Rundwelt und ihre Realität in der Scheibenwelt. Der Bogen spannt sich von den Epen des alten Indien, den Denkern der Antike, über Thomas of Erceldoune, Dante, Shakespeare, die Gebrüder Grimm bis hin zu H. P. Lovecroft, Tolkien und George R. R. Martin. Sie erzählen dabei unglaublich weltklug und witzig über Geschichtliches, Philosophisches, über Filme und Bücher, alte und neue Religionen, Popkultur, über Herrscher, die Liebe und den Tod. Es geht um die absurdesten Ideen, bei denen man es nicht für möglich gehalten hätte, ihre Wurzeln in unserer Welt zu finden. Kleine Zitate aus den jeweiligen Büchern zu den weisen Erkenntnissen der Scheibenweltbewohner machen es auch Einsteigern leicht, sich einzulesen und wecken den Appetit auf das entsprechende Buch. Und ob man will oder nicht, es gibt als Bonus eine Steigerung der Allgemeinbildung dazu: Man lernt, dass auf unserer Erde (neben Feuer, Wasser, Luft und Erde) leider nicht existierende Grundelement Narrativium kennen, das entstehen konnte, weil es in der Scheibenwelt Magie gibt. Es bewirkt die Narrative Kausalität, d.h. den Effekt, dass sich die Geschehnisse auf der Scheibenwelt in Form von erzählenswerten Geschichten ereignen.

So ist das vorliegende Nachschlagewerk in Erzählformat eine wundervolle Ergänzung zu „Die Scheibenwelt von A-Z“ (von Terry Pratchett und Stephen Briggs), dem unentbehrlichen Begleiter des Lesers durch Ort, Zeit, Geschichte und Personen.

Am Ende finden sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit weiterführenden Literaturempfehlungen und ein Register.

Ein Beitrag von Birgit Scheps-Bretschneider


Literaturhinweise:

Terry Pratchett, Jacqueline Simpson: Mythen und Legenden der Scheibenwelt. Sagen, Sitten und Gebräuche auf der Scheibenwelt mit hilfreichen Hinweisen auf erstaunliche Parallelen zum Planeten Erde. Ins Deutsche übertragen von Gerald Jung. München: Goldmann 2011.

Terry Pratchett, Stephen Briggs: Die Scheibenwelt von A – Z. Aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe. Ins Deutsche übertragen von Andreas Brandhorst und Gerald Jung. München: Goldmann 2016.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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