Auf dem Theaterplatz vor der Dresdner Semperoper steht das Reiterstandbild eines Mannes, der für viele Betrachter ein nahezu Unbekannter ist. Der in den Königsmantel gehüllte Reiter mit dem nachdenklichen Blick ist Johann von Sachsen (1801-1873), der unter dem Pseudonym „Philalethes“ als Übersetzer von Dantes „Göttlicher Komödie“ zu eigentümlichem Ruhm kam.
Sein Vater, Prinz Maximilian von Sachsen, war ein jüngerer Bruder des Kurfürsten Friedrich August der Gerechte, der 1806 durch Napoleon zum König erhoben wurde. Als drittgeborener Prinz wurde Johann auf eine militärische Laufbahn vorbereitet, die jedoch seinem Wesen nicht entsprach. Eine Reise nach Italien, der Heimat seiner früh verstorbenen Mutter Caroline von Parma, sprach die Veranlagung des sprachbegabten und hochgebildeten Prinzen wesentlich eindrücklicher an. Im Herbst 1821 erwarb er in Pavia ein Exemplar der „Divina Commedia“ und vertiefte sich sofort in die Lektüre.
„Es wurden hier“, so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen, „für die Studenten auf allen Gassen Bücher in Buden verkauft. In einer solchen Bude kaufte ich im Vorübergehen einen Dante in der Ausgabe von Biagioli. Das war der Anfang meiner Vorliebe für diesen Dichter, denn von da an las ich täglich während des Fahrens einen oder ein paar Gesänge mit Hilfe eines sehr unvollkommenen Handdictionaires und des gute Anleitung gebenden Commentars und brachte bis zum Schluß der Reise das ganze Inferno fertig“ (Kretzschmar, S. 65).
Die Leidenschaft für den italienischen Dichter behielt Johann zeit seines Lebens. Nach seiner Italienreise widmete sich der Prinz dem Werk Dantes und begann, sich intensiv mit der italienischen Sprache zu befassen. Nachdem er 1854 durch den Unfalltod seines älteren kinderlosen Bruders Friedrich August II. überraschend auf den Thron kam, wurde Dresden auch geistig zum Florenz des Nordens. Am Hof des Wettiners stand die Welt der Werke Dantes im Mittelpunkt des kulturellen Lebens wie nirgends sonst in Europa.
Philalethes, der Freund der Wahrheit
Dante war als „romantischer“ Dichter im deutschen Geistesleben des frühen 19. Jahrhunderts allgegenwärtig. Zur Zeit von Johanns erster Begegnung mit dem großen Florentiner hatte die „Göttliche Komödie“ schon mehrere Übersetzer gefunden, so Ludwig Bachenschwanz (1767/69) und Karl Ludwig Kannegießer (1809). Johann mag nach der Lektüre des Originals die ihm zugänglichen Übersetzungen als ungenügend empfunden haben oder aber den Wunsch, sich auch selbst einmal an der Übersetzung des klassischen Werkes zu versuchen. Die entscheidende Anregung dazu, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, gab ihm wahrscheinlich sein Freund und Leibarzt Carl Gustav Carus.
Nach fünf Jahren tastender Versuche legte er einem Kreis von Vertrauten die ersten zehn Gesänge des „Inferno“ zur Begutachtung vor. Johann veröffentlichte sie 1828 unter dem Pseudonym „Philalethes“ (Freund der Wahrheit), das ihm den Beinamen „Johann, der Wahrhaftige“ eintrug, in einem auf eigene Kosten gedruckten Quartbändchen. Er wollte Dantes Werk mit möglichst wörtlicher Treue ins Deutsche übertragen, wie er im Vorwort schrieb, und wählte dafür die Form der metrischen Übersetzung. Die Anonymität zu wahren, war Johann wichtig, denn er wollte die Bewertung des Werkes nicht durch seinen großen Namen verzerren.
1833 erschien die Übersetzung der restlichen 24 Gesänge der Danteschen „Hölle“, 1839 nochmals mit ausführlichen Erläuterungen als Buchhandelsausgabe. Die auf seinem Lieblingsschloss Weesenstein erarbeitete Übersetzung der Teile „Purgatorio“ und „Paradiso“ gelangte erstmals 1840 bzw. 1849 zum Druck. Die Endredaktion des letzten Teils hatte Johann übrigens auf der Flucht vor der Revolution 1848 auf der Festung Königstein vorgenommen. Im Verlag der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden und Leipzig erschien die knapp 1100 Seiten umfassende dreibändige Gesamtausgabe der „Göttlichen Komödie“, deren immer neue Ausgaben Johann noch als König beschäftigt haben. 1865 erteilte er dem Verlag B. G. Teubner in Leipzig die Erlaubnis für eine „neue, durchgesehene und berichtigte Ausgabe“. Sie ist auch für alle späteren Ausgaben bis hin zur neuesten maßgeblich geblieben.
Nur Goethe schmähte
Das Echo auf die Übersetzung war beachtlich. Nicht minder groß war das Erstaunen darüber, dass ein Mitglied eines regierenden Herrscherhauses eine solche Arbeit unternommen hatte. „Die Betrachtung“, schrieb Karl August von Varnhagen 1829 anlässlich der Veröffentlichung der ersten zehn Gesänge des „Inferno“ an den Prinzlichen Oberhofmeister von Miltitz, „geht mit freudiger Innigkeit auf das allgemeine Gebiet unserer deutschen Geistesbildung, auf den wirksamen Antheil, der ihr solchergestalt in den höchsten Lebenskreisen so prunklos als ernst gewidmet wird, und auf das glückliche Geschick über, welches unserem nicht nur geistigen, sondern überhaupt unserem nationalen Fortschreiten leuchtet, wenn die Nation unter ihren Ersten und Höchsten solche Beispiele zeigt!“ (zit. in Neumeister, S. 142).
Ganz ähnlich äußerte sich Alexander von Humboldt 1849 nach Abschluss des Unternehmens: „Es gewährt einen erhebenden Anblick, ein edles Herrschergeschlecht mehrere Generationen hindurch, hochherzig, von dem Gedanken beseelt zu sehen, durch jene Annäherung nicht blos den Ruhm der Heimath oder den eigenen Genuss des Lebens zu erhöhen, sondern auch, durch eine der Annäherung inwohnende begeisternde Macht, den schaffenden Genius zu einem kühneren Fluge anzuregen“ (ebd., S. 142 f.).
Nur einer schmähte mal wieder: Goethe. Am 9. August 1828 schickte Kanzler Friedrich von Müller ein Exemplar des Vorabdruckes an den Dichterfürsten und bat um ein „ostensibles Billet“ darüber. Doch Goethe konnte dem wissenschaftlichen Herangehen des Übersetzers, das sich in zahlreichen Anmerkungen niederschlug, wenig abgewinnen. Er vermisste im Gegensatz zu früher gelesenen Übersetzungen in Johanns Werk die Gewalt und den Reichtum von Dantes poetischer Sprache. Um sich aus der Affäre zu ziehen, bat er Müller um die Zusendung einer Gedichtsammlung des Prinzen. Nach deren Lektüre wollte er sich wohlwollend über dessen poetisches Talent äußern. Johann erfuhr von Goethes Kritik, was ihn offensichtlich nicht daran hinderte, seine Übersetzung in der einmal begonnenen Form fortzuführen.
Das „Dante-Kränzchen“
Johann selbst hat sich nie als begnadeter Sprachkünstler verstanden, sondern stets nur als ein philologisch-historisch arbeitender Gelehrter. Das beweist allein schon die Art, wie er das kühne Unternehmen anging und vollendete. Seit dem Winter 1827/28 versammelte er einen Kreis von Fachleuten um sich, mit denen er sich beständig austauschte. Mit den Mitgliedern des sogenannten „Dante-Kränzchens“ traf sich der Prinz regelmäßig, um bei einem Glas Negus seine Übersetzung vorzutragen und zu diskutieren.
In dieser Abendgesellschaft – aus der seit 1832 ein engerer Kreis, die „Accademia Dantesca“ hervorging – waren viele hervorragende Dresdner vertreten. Dazu zählten beispielsweise der Diplomat und Übersetzer Wolf Heinrich von Baudissin, der Arzt und Maler Carl Gustav Carus und der Dichter Ludwig Tieck. Zuweilen wurden zu diesen Abenden auch „durchreisende Nobilitäten“ eingeladen, wie Alexander von Humboldt. Man traf sich in der Villa des Kunsthistorikers Carl Friedrich von Rumohr auf dem Wachwitzer Weinberg, welcher „dabei für ein treffliches Gabelfrühstück“ sorgte, oder in einem der Pavillons des Pillnitzer Schlossparks. „[D]a saßen wir denn in dem altmodisch verzierten bequemen Gartenzimmer, welches wohl noch nie dergleichen poetische Zusammenkünfte gesehen hatte, jeder mit seinem Dante bewaffnet […] und hörten von Tiecks sonorer Stimme aufmerksam die von einem Fürsten verdeutschten Verse des Dichterfürsten vortragen„, erinnert sich Carus (zit. in Meyer, S. 13).
Nicht nur über Dante, sondern auch über aktuelle Themen aus Wissenschaft, Kunst, Bildung und Politik wurde debattiert. Die Abendgäste waren entzückt von seiner geistreichen Auffassung aufgeworfener Fragen und seiner liebenswürdigen Art zu diskutieren. Johann musste sich jedoch auch der in diesem Kreise freimütig geübten Kritik stellen, Widerspruch aushalten und die besseren Argumente akzeptieren. „Diese Stunden gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen“, schreibt er in seinem Lebensrückblick, „und sie gewähren mir zugleich den Vorteil, auf dem leichtesten Wege gewissermaßen die Blüte von manchem mir fremden wissenschaftlichen Strauß zu pflücken“ (Kretzschmar, S. 86).
Wissenschaftliche Exkurse im Kleindruck
Der reiche Ertrag dieser geselligen Stunden ist uns erhalten geblieben: Es ist der Kommentar zur „Göttlichen Komödie“, den Johann über die Jahre zusammentrug. Dieser Kommentar erklärt erst eigentlich den beträchtlichen Umfang der dreibändigen Ausgaben von 1833 bis 1849 und 1865/66. Er füllt in Form von ausführlichen Fußnoten immer wieder halbe oder ganze Seiten unter dem Text. Nicht selten wächst er sich zu langen mehrseitigen Exkursen im Kleindruck aus. Das hier ausgebreitete Wissen ist beeindruckend. Es verdankt sich sicher zum großen Teil den Gesprächen mit den Teilnehmern der Abendgesellschaft und dem sich daran anschließenden Briefwechsel. Vor allem aber zeugt er von Johanns umfassender, zum großen Teil autodidaktisch erworbenen Bildung. Er zeugt ebenso von seinem Bestreben, diese Bildung konsequent und erschöpfend in den Dienst der Deutung des Dante-Textes zu stellen. Dass Johann dies ohne jede Eitelkeit tat, geht aus der Einleitung zur ersten Ausgabe des „Purgatorio“ von 1840 hervor:
„Ich wollte nämlich die Gedanken des Dichters nach und nach vor dem Leser sich aufrollen lassen, und ihm davon jedes Mal möglichst nicht mehr reichen, als zu dem Verständnisse der vorliegenden Stelle erforderlich ist. Den Gang, den ich selbst bei dem Studium des Dichters einschlagen musste, sollte der Leser gewissermaßen mitmachen, und nicht um die Freude gebracht werden, selbst mit einiger Anstrengung allmählich in das Verständnis jenes großen Geistes einzudringen. Dergleichen Abhandlungen, wie ich oben erwähnte, erregen oft so viel selbständiges Interesse, dass man darüber ihren Zweck aus den Augen verliert, und, ehe man zu der Stelle, welche erläutert werden soll, gelangt, die Erläuterung schon wieder vergessen hat“ (zit. in Neumeister, S. 144).
Ein besseres Zeugnis als mit diesen Worten hätte sich Philalethes, der Freund der Wahrheit, nicht ausstellen können. Bis heute gehört seine kommentierte Übersetzung der „Göttlichen Komödie“ zu den sprachlich schönsten und wissenschaftlich verlässlichsten im deutschen Sprachraum.
Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch
Claudia Roch studierte Ethnologie, Journalistik und Religionswissenschaft in Leipzig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen neben der vergleichenden Kulturgeschichte u. a. die Mythologie, Religion und Kultur der Indianer Nordamerikas.
Literaturhinweise:
Albert Prinz von Sachsen. „Carl Gustav Carus und seine Freundschaft mit König Johann von Sachsen“. Ärzteblatt Sachsen 8 (2005), S. 423-425.
Kretzschmar, Hellmut (Hrsg.): Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen. Eigene Aufzeichnungen des Königs über die Jahre 1801 bis 1854. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958.
Meyer, Thomas. „Carl Gustav Carus und Brunetto Latini, der Lehrer Dantes“. Der Europäer 4.1 (1999), S. 11-14.
Neumeister, Sebastian. „Der königliche Übersetzer“, in: Sächsische Schlösserverwaltung / Staatlicher Schlossbetrieb Schloss Weesenstein (Hrsg.), König Johann von Sachsen. Zwischen zwei Welten (Ausstellungskatalog). Halle an der Saale: Verlag Janos Stekovics 2001, S. 141-145.
Petzholdt, Julius. Zur Geschichte der Danteausgaben von Philalethes. Dresden 1884.
Philalethes. „Vorwort zur Ausgabe der ersten zehn Gesänge der Hölle von 1828“, in: Dante Alighieri’s Göttliche Comödie, übersetzt von Philalethes. Leipzig / Berlin: B. G. Teubner 1904, S. XIV-XV.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Danke für diesen umfangreichen Bericht eines königlichen Geistes! Dazu muss man Sachsen beglückwünschen und uns sollte das als Wegweisung dienen ! Danke Rotraud von der Heide
ein sehr interessanter Einblick in eine Zeit hoher kultureller Blüte in Dresden!