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Wer auf der Spur der schönen Lau (Mörike, 2017 – erstmals 1853 erschienen als Binnenerzählung im Kunstmärchen Das Stuttgarter Hutzelmännlein) nach Blaubeuren reist, um vor der alten Hammerschmiede in den Abgrund des Blautopfes zu schauen, bewegt sich auf Meeresgrund. Vor 150 Millionen Jahren entstanden die hier typischerweise anzutreffenden Kalkfelsen aus Ablagerungen auf dem Grund eines tropischen Meeres; Korallenriffe sowie kalkhaltige Skelett- und Gehäusereste der dort beheimateten Tierwelt transformierten über die Zeiten zu porösen, knöchern-weißen Felslandschaften (Vgl. Conard, 2015 S. 11 ff.) – eine wahrhaft mythisch aufgeladene Natur, in der Gebirge und Gesteinsformationen im wörtlichen Sinn einmal lebendig waren.
Viele Schöpfungsmythen erzählen von einem Urwesen, aus dessen zerstückeltem Leib die uns umgebende Natur entstanden ist, und der somit nach wie vor etwas von der göttlichen Kraft des jeweiligen mythischen Urahnen innewohnt. In der germanischen Mythologie etwa entstanden Berge, Wälder und Seen aus dem Leib des Riesen Ymir, während für die Azteken der Ursprung der sichtbaren Welt in der Gestalt der zerschmetterten Erdgottheit Coatlicue anzunehmen ist. In der Schwäbischen Alb begegnen wir unvermutet demselben Motiv, allerdings nicht im Mythos, sondern in der Naturgeschichte. Daher bedurfte es auch keiner großspurigen Erfindungen des menschlichen Geistes, wie etwa eines Riesen oder einer Gottheit, um die felsige Landschaft zu kreieren. Vermutlich werden die einstigen Meerestiere, deren Überreste hier zu Fels erstarrten, von Wanderern nicht eingehender gewürdigt, als der Autofahrer jener Lebewesen gedenkt, die in Jahrmillionen zu dem transformierten, womit wir heute unsere Fahrzeuge betanken. Weiß man indes um die Geschichte der Dinge, lässt sich unschwer ein Bewusstsein für die Lebenskreisläufe entwickeln, von dem auch viele Mythen handeln, die somit bei eingehender Betrachtung dem Leben viel näher sind, als es uns häufig zunächst erscheinen mag. Dann kann Wandern – und sogar Autofahren – zu einer Meditation über jene werden, die vor uns kamen und unser Leben erst ermöglichten.
In der Kreidezeit, vor etwa 60-70 Millionen Jahren, kam es zu einer tektonischen Hebung des Territoriums, die Schwäbische Alb wurde aus dem Meer geboren. Damit begann auch die sich bis zum heutigen Tage fortsetzende Verkarstung: Durch Risse gelangt saures Wasser in den Fels, den es nun auszuhöhlen beginnt; über Jahrmillionen entstehen unterirdische Höhlen- und Fluss-Systeme. (Vgl. Conard, 2015, S. 11) Die Schwäbische Alb ist eine magische Landschaft, in der noch heute zuweilen ganze Flüsse spurlos verschwinden. Allerdings ist der plötzliche Wasserverlust keinem Zauberspruch, sondern dem porösen Kalkgrund geschuldet, der selbst die Donau vorübergehend in einen Unterweltfluss verwandelt. Die stille Beschaulichkeit des Aachtopfes, neben dem Quelltopf der Ursprung eine der beiden weniger berühmten Geschwister des Blautopfes, trügt: Immerhin handelt es sich hier um nicht weniger als eine Inkarnation der Donau, deren Wasser zwölf Kilometer weiter versiegten und mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Metern pro Stunde durch unterirdische Hohlräume strömten, um schließlich hier, in Deutschlands wasserreichster Karstquelle, wieder an die Oberfläche zu treten.
So kündet die Landschaft der Schwäbischen Alb von einer längst untergegangenen Welt, die in den unterirdischen Höhlensystemen mit ihren Wasserläufen fortlebt. Noch die unbeschreibliche Farbe des viel später entstandenen Blautopfs, zwischen Kobalt und Türkis changierend, erzählt vom Leben im Urmeer, verdankt sie sich doch den reflektierenden Kalkpartikeln im Wasser und somit den Hinterlassenschaften urzeitlicher Geschöpfe.
Dass dieser abgründige Tümpel noch der Schriftstellerin Iris Radisch in ihrem 1997 erschienenen ZEIT-Artikel (Radisch, 1997) als tiefster See der Welt gilt, hängt wohl mit der Beharrlichkeit zusammen, mit der sich Legenden in unserem kulturellen Gedächtnis verankern. Einst galt er als bodenlos – zu Zeiten, als man noch befand, ihn (oder jene Wesen, die mutmaßlich seine Untiefen bevölkerten) bei gelegentlichem Brodeln seiner für gewöhnlich spiegelglatten Wasseroberfläche mit allerlei Gaben besänftigen zu müssen. So jedenfalls schildert es Mörike in seiner Erzählung. (Vgl. Mörike, 2017, S. 10) Der Dichter greift auch das Motiv des Bleilots auf, das niemals auf Grund trifft, weil es zuvor von einer Nixe entwendet wird. Ergeht es uns nicht ähnlich, wenn wir mit den Mitteln der Wissenschaft die Untiefen der Vergangenheit ergründen? Lässt sich der Diebstahl des Messwerkzeugs durch ein mythisches Unterwasserwesen durch den Unwillen erklären, mit dem wir das sich in Märchen und Mythen, sowie den damit verbundenen Orten, offenbarende Mysterium vor dem Zugriff der Rationalität zu entziehen trachten? Die Untersuchungen von Höhlentauchern haben unsere Vorstellungen über das mythische Gewässer zurechtgerückt und der diebischen Nixe einen Strich durch die Rechnung gemacht: In 21 Metern Tiefe stießen die Taucher auf Grund.
Allerdings öffnet sich hier, wie so oft in der wissenschaftlichen Realität, ein neues Mysterium, wo gerade erst ein altes erschlossen schien: Wie im Märchen finden sich die Taucher vor einem Durchgangstor in eine andere Wirklichkeit wieder; ein Felsspalt, so schmal, dass er die Verwegensten unter den Höhlentauchern gerade eben passieren lässt, lockt diese in ein dahinter liegendes gigantisches Höhlensystem, das sich über knapp 12 Kilometer erstreckt, und mitunter kathedralenartige Räume mit einer Höhe von 70 Metern einschließt. Mörikedom nannte der Tauchpionier Jochen Hasenmayer die von ihm entdeckte Halle nach der Geschichte um die schöne Lau. Seine Nachfolger stießen auf weitere Höhlensysteme und erweisen sich in ihren Namensfindungen dabei eher als Kinder der großen Kinospektakel: Die von ihnen entdeckten Hallen und Gänge tragen heute so pompöse Namen wie Apokalypse, Walhalla, Wolkenschloss, Palast der Winde oder Halle des verlorenen Flusses. Auch wissen wir heute, dass sich unter unseren Füssen über Jahrtausende eine Tropfsteinhöhle namens Avalon manifestiert hat.
Ein wenig Charisma hat das Blauhöhlensystem indes als Tribut an den Pragmatismus unserer Zeit eingebüßt. Vor einigen Jahren wurde ein Zugang gebohrt, durch den Forscher heute trockenen Fußes in das mythische Reich der Lau gelangen können. Doch auch der Blautopf dient nach wie vor als Eingangstor: Jochen Hasenmayer ließ sich selbst durch einen Tauchunfall, der ihm 1989 eine Querschnittlähmung einbrachte, nicht davon abschrecken, seine Unterweltsreisen fortzusetzen. In einem selbstkonstruierten U-Boot aus Plexiglas gelang es ihm weitere Male, den Klappfelsen am Grunde des Blautopfes zu passieren – jene kritische Stelle, die in Mythen und Märchen den gefährlichen Durchgang in eine andere Welt und damit in einen neuen Abschnitt der Heldenreise bezeichnet. Das speziell hierfür konstruierte Reisevehikel, ein Pferd gewissermaßen, das über die magische Kunst verfügt, den Reiter sicher durch Unterwasserwelten zu tragen, ist nicht allein das Produkt der im Bootsbau üblicherweise angewandten Ingenieurskunst, sondern trägt zugleich das unsichtbare Siegel der Instrumentenbauer; jedenfalls soll Hasenmeyer bei der Konstruktion seines magischen Gefährtes ein Orgelbauer zur Seite gestanden haben – womit wir bei der Musik angelangt wären!
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»Besuchen Sie also den faszinierenden Ort, wo Kunst und Musik ihren Ursprung haben.« – Die Stadt Schelklingen, ein unscheinbarer Fleck im Achtal, durch das einst die Urdonau donnerte, flankiert von Burg Hohenschelklingen, überragt vom hiesigen Zementwerk, wirbt auf ihrer Internetseite für den Hohle Fels, jene Höhle, in der 2008 mit der Venus vom Hohle Fels die älteste skulpturale Darstellung des menschlichen Körpers gefunden wurden. Das Alter der Figurine wird auf etwa 40.000 Jahre geschätzt. Nicht nur der Fels war einst lebendig, oder doch zumindest Teil lebendiger Wesen, auch die 21,8 Zentimeter lange Flöte, die hier die Zeiten überdauert hat und als das älteste erhaltene Musikinstrument gelten darf. Vor 35.000 Jahren wurde sie aus dem zierlichen Knochen eines Gänsegeiers geschnitzt.
Die Wurzeln von Kunst und Musik reichen tiefer in die Vergangenheit zurück, als dass sich ein einziger Ursprungsort bestimmen ließe. Der Hohle Fels des Aurignacien – die Zeit vor etwa 43.000 bis 34.000 Jahren –, markiert indes einen der frühesten Punkte, zu denen unser Blick zurückreicht. Als ich mich hier im September 2020, zusammen mit meiner Lebensgefährtin Anna, durch den 15 Meter langen kanalartigen Gang auf die mit 500 Quadratmetern Grundfläche beinahe kathedralenartig zu bezeichnende Halle zubewege, ist die Tourismus-Saison schon fast zu Ende gegangen. Bald wird die Höhle wieder den hier massenhaft überwinternden Fledermäusen gehören. Auch sonst ist dieser Ort keineswegs unbelebt. Unsere Führerin, die uns eineinhalb Stunden durch den Fels geleiten wird, weist uns auf die respektabel dimensionierten, sich über die gekrümmten Wände bewegenden Spinnen hin. In einer Nische hat sich eine Wasserlache gebildet; wir halten Ausschau nach einer Kröte, die hier zuhause sein soll, aber wohl gerade ausgeflogen ist.
Während wir auf einem Metallgerüst stehen, deutet die Höhlenführerin mit dem Finger auf eine Stelle unter uns, irgendwo in der Luft: Hier wurde die Venus-Statuette gefunden. Inzwischen haben sich die Forscher weitaus tiefer in den Boden gegraben, um mit den tiefer liegenden Erdschichten zugleich tiefer zurück in die Zeit zu gelangen. Sandsäcke sollen Geröll und Erdreich vor dem Abrutschen bewahren. Scheinwerfer tauchen urzeitliche Gesteinsschichten in grelles Licht, umrankt vom Grün der Algen, die sich in Nachbarschaft der Halogenscheinwerfer gefallen. Die Pflanzen gelten als unerwünscht, eine als Lampenflora geschmähte Verwerfung der Höhlenökologie, die hier eigentlich nichts zu suchen hat. Die Halogenscheinwerfer sollen demnächst durch LEDs ausgetauscht werden, bei denen sich die photosynthetisch wirksamen Wellenlängen herausfiltern lassen. So weit wie möglich soll das Höhlenreich vor unbedachtem Einfluss des Menschen geschützt werden. Jeden Tag werden hier die Spuren von Besuchern herausgetragen, von Plastikbechern bis zu Opfergaben für die große Göttin.
Einst lebten Menschen im vorderen Bereich, weiter hinten, in der kathedralenartigen Halle, hielt ein Höhlenbär seinen Winterschlaf. Die Höhlenführerin erzählt, wie sich die Menschen dort mit dem erlegten Bären einen „Veschper“ geholt haben. Das Zusammenleben stelle ich mir wenig gemütlich vor. Die Höhle bietet Schutz vor Wind und Wetter, doch zu tief sollte man sich auch wieder nicht in das Innere des Felses begeben, im Wissen, dass dort eine übermächtige Kreatur schlummert, deren Weg ins Freie nur am Menschen vorbeiführt. Ob diese den Höhlenbären als ein Wesen der Unterwelt wahrgenommen haben? Kannten sie überhaupt eine solche Vorstellung?
Von den Maya wissen wir mehr als von den Menschen, die vor 40.000 Jahren die Schwäbische Alb bevölkerten. Die Hieroglyphe der Maya für Höhle lautet ch’een, ein stilisiertes ausgerissenes Auge, das auf die Götter einer als zeitlos erfahrenen Unterwelt verweist, die sich gänzlich der Welt des Lichts und der Kalenderzyklen entzieht. (Vgl. Grube, 2016, S. 123) Verfügten die eiszeitlichen Vorläufer der Alb-Schwaben über eine vergleichbare Mythologie? Oder sind jegliche Mutmaßungen in eine solche Richtung als Projektionen eines tiefenpsychologisch vorgebildeten modernen Lesers zu verwerfen? Hat man erst einmal begonnen, das kulturhistorische Vakuum mit Wissensschnipseln aus anderen Kulturen aufzufüllen, ist es ein Leichtes, sich in Mutmaßungen und Spekulationen verlieren.
Und doch ist die Forschung in den letzten Jahren etwas nachsichtiger geworden, wenn es darum geht, Denkmöglichkeiten aus dem interkulturellen Vergleich abzuleiten. Mit Blick auf die universelle Gültigkeit grundlegender menschlicher Verhaltensweisen wird behutsam versucht, Licht auch in die schriftlosen Kulturen zugrundeliegenden Erfahrungsweisen zu bringen, (Vgl. Floss, 2016, S. 190) etwa schamanische Elemente in der Felsmalerei des Jungpaläolithikums nachzuweisen. (Vgl. Lewis-Williams, 2002 u. 2005) Dennoch muss vieles Spekulation bleiben. Ethnographische Übertragungen von Beobachtungen bei heutigen Jäger- und Sammlerkulturen auf paläolithische Funde bleiben umstritten.
Zu den bedeutendsten zählt der 31,1 Zentimeter große Löwenmensch (Vgl. Conard, 2015 S. 203 ff.) . Am 25. August 1939, dem letzten Tag der vor dem Hintergrund des Krieges abgebrochenen Ausgrabungen, wurden in der Hohlenstein-Stadel-Höhle bearbeitete Elfenbeinsplitter entdeckt, die in einer Zigarrenkiste nach Tübingen und schließlich ins Ulmer Museum gelangten. Erst dreißig Jahre nach ihrer Entdeckung stieß der Prähistoriker Joachim Hahn im Rahmen einer Inventarisierung auf die unscheinbare Kiste, und vermochte in den Splittern Fragmente einer Skulptur zu erkennen, einem, wie sich schließlich zeigen ließ, (höchstwahrscheinlich männlichen – Vgl. Ebd. S. 104) Mischwesen aus Mensch und Höhlenlöwe. 2009 gelang es, den originalen Fundort wieder aufzuspüren. In der Folge wurden weitere Fragmente aufgefunden, die in den Jahren 2012-2013 die annähernd ursprüngliche Gestalt wiederherzustellen verhalfen.
Ist der Löwenmensch ein Schamane oder ein göttliches Mischwesen, mit dem die Menschen versucht haben, eine Verbindung zu Tieren oder den sich darin mitteilenden Ahnen herzustellen (Vgl. Floss, 2016, S. 202) – und macht es überhaupt einen Unterschied? Die letztere Frage muss wohl abhängig von dem zugrunde gelegten Schamanenbegriff beantwortet werden. Der Archäologe David Lewis-Williams etwa glaubt an eine schamanische Verwandlung in einen Löwenmenschen, analog zu schamanischen Praktiken, die sich zum Teil bis heute, etwa bei den südafrikanischen San, erhalten haben. (Vgl. Lewis-Williams, 2002)
2001-2002 wurde im Hohle Fels ein winziger geschnitzter Körper entdeckt, der sich nicht eindeutig einer Tierart zuordnen ließ. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Vogel handeln könnte, stieß in der Fachwelt zunächst auf Ablehnung, da sie nicht zu der weithin akzeptierten These von »Kraft und Aggression« zu passen schien, die von Joachim Hahn formuliert worden war, und derzufolge Löwe und Mammut als die in der Schnitzkunst des Aurignacien vorherrschenden Tiere anzunehmen sind. Ein Jahr später wurde schließlich der zum Körper passende Kopf gefunden. So wissen wir heute, dass es sich bei der insgesamt 4,7 Zentimeter langen Figur um die eines Wasservogels (Vgl. Conard, 2019, S. 122 ff.) handelt, dessen langestreckte Körperhaltung auf den Moment vor dem Durchstoßen der Wasseroberfläche zu deuten scheint – ein Hinweis auf Tiere als Mittler zwischen den Welten? Derlei Fragen bleiben spekulativ. Dass ein eindrucksvolles Wesen wie der Löwenmann keinerlei mythische Vorstellung im Sinne einer Verbindung zur Tier- oder Geisterwelt verkörpert, ist indes schwerlich vorstellbar.
Aufgefunden wurde der gleich Orpheus zerstückelte Löwenmensch in einer weit hinten im Höhleninnern gelegenen Nische, in deren Umfeld im Übrigen ausschließlich Knochenfunde aufzufinden waren, während im vorderen Höhlenbereich vielfältigere Lebensspuren überdauert haben – ein abgelegener Sakralraum? Vermutet wird ein kultischer Zusammenhang, in dessen Mittelpunkt der Löwenmensch gestanden haben könnte. (Vgl. Conard, 2019, S. 105) Der Experimentalarchäologe Wulf Hein benötigte für seine aus einem Stück fossilen Mammutelfenbeins geschnitzte Replik mehr als 360 Arbeitsstunden. Wer soviel Aufwand für eine Skulptur betreibt, muss wichtige Gründe dafür haben. Zudem deutet der erhebliche Arbeitsaufwand für auf eine unterstützende soziale Gemeinschaft. (Ebd. S. 102)
Die gebeugte Haltung folgt der Krümmung des Mammutstoßzahns, aus dem die Figur vor 40.000 Jahren geschnitzt wurde. (Absolute Datierungen aufgrund von Tierknochen aus dem Umfeld der Splitterfunde ergeben ein Alter von 35.000-40.000 Jahren, das demzufolge auch häufig in der Literatur genannt wird. Neuere Erkenntnisse im Hinblick auf die Fundschicht des Löwenmenschen lassen jedoch eine noch genauere Bestimmung von circa 40.000 Jahren zu. Vgl. Conard, 2019, S. 100.) Der Höhlenlöwe muss eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen sein, oft noch mächtiger als seine heute bekannten afrikanischen Nachfahren. Verzierungen könnten auf symbolische Bedeutungen hinweisen. (Vgl. Ebd. S. 102) Haben die Menschen, deren Griffspuren sich an dem Objekt nachweisen lassen, die Statue im Rahmen von Ritualhandlungen gehalten oder herumgereicht, bei denen man sich mit dem Geist des Löwen zu verbinden suchte, auf dass sich ein Teil seiner Kraft auf den Jäger übertrage? Schlummert im Elfenbein, eine vergleichbare Sichtweise vorausgesetzt, nicht auch die Kraft des Mammuts, die sich fühlend erspüren lässt, und deren der Mensch im Ritual habhaft zu werden suchte?
Unter den weiteren Funden findet sich ein lediglich 2,5 Zentimeter großer, aber fein ausgearbeiteter Löwenkopf (Vgl. Conard, 2015, S. 2016) aus der Vogelherdhöhle, sowie eine mit 2,6 Zentimetern ebenfalls winzige Variante des Löwenmenschen aus dem Hohlen Fels. (Vgl. Ebd. 2019, S. 124f.) Neben dem Löwenmenschen sind vereinzelt auch malerische Darstellungen von Mischwesen bereits aus dem Aurignacien bekannt: eine Wisent-Frau in der Höhle von Chauvet (Floss, 2016, S. 197 u. 202) sowie eine menschliche Gestalt mit Rinderkopf in der norditalienischen Grotta di Fumane. (Ebd. S. 202) Haben bereits in der Vogelherdhöhle des Aurignacien einst Jagd- oder Initiationsrituale stattgefunden, wie es von den später entstandenen frankokantabrischen Höhlenmalereien angenommen wird? War die kleine, an die vierzigtausend Jahre alte Venusfigurine aus dem Hohlen Fels Teil eines Göttinnenkultes, oder ein säkulares Schmuckstück? Und muss man nicht annehmen, dass die Menschen, deren Imaginations- und Handwerkskunst sie ihre Existenz verdankt, zwischen beidem kaum unterschieden haben dürften? Auffällig ist die vollendete Form viele Fundstücke, etwa des winzigen Wildpferdchens (Conard, 2019, S. 74ff.), dass es von der Vogelherdhöhle nach Tübingen in das MUT verschlagen hat (Museum der Universität Tübingen, »Alte Kulturen« auf Schloss Hohentübingen). Die Reduktion der natürlichen Gestalt scheint geradezu einem Programm der Moderne zu folgen.
Gerade 70 Zentimeter entfernt von der Venus-Figurine fanden die Forscher im September 2008 elf Bruchstücke jener aus einem Flügelknochen des Gänsegeiers geschnitzten Flöte, von der bereits die Rede war. Zusammen mit einem etwas weiter abseits entdeckten zwölften Fragment ergab sich nach der Zusammensetzung ein 21,8 Zentimeter langes Instrument mit fünf Grifflöchern und einem in der Form einer asymmetrischen Pommesgabel gebildeten Anblas-Ende: das älteste und zugleich am besten erhaltene Exemplar unter insgesamt acht Flöten aus dem Aurignacien, die in den Höhlen der Alb gefunden wurden. Die ältesten erhaltenen Musikinstrumente weisen zu den heute produzierten Flöten eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf. (Vgl. Conard, 2020, S. 80) Unweit vom Hohlen Fels, in einer weiteren Höhle mit dem Namen Geißenklösterle, fanden sich drei der Flöten, zwei aus Vogelknochen, eine weitere aus Mammutelfenbein geschnitzt. (Ebd. 2019, S. 153) Der Unterschied besteht insbesondere in der leichteren Bearbeitbarkeit von Knochen, die von Natur aus hohl sind. Eine Mammutflöte muss dagegen aufwendig aus zwei Teilen geschnitzt werden, die schließlich passgenau zusammenzufügen sind. (Ebd. S. 154)
Wie mögen diese Flöten in den eiszeitlichen Höhlen der Alb geklungen haben? Der Besucher des URMU, des Urgeschichtlichen Museums in Blaubeuren, kann sich ein (Klang-)Bild davon machen, indem er die entsprechenden Knöpfe drückt. Weitaus schwieriger einzuschätzen ist es, was die Menschen, die zur Zeit des Aurignacien hier lebten, beim Flötenklang gehört und empfunden haben – ist es uns doch schon unmöglich, mit den Ohren eines Barockmenschen zu hören. Was fühlten sie beim Klang der Gänsegeierknochenflöte?
Ich stelle mir vor, dass der Klang eines Knochens oder Stoßzahns den Menschen wie reinste Magie vorgekommen sein muss. War es womöglich der Vogel oder Mammut selbst, der durch den Klang zu den Menschen sprach, ein Gesang der Tiergeister? Das mythische Bewusstsein unterscheidet weniger kategorisch, als wir es gewohnt sind, und kennt die Verbindung noch zwischen dem Disparaten an, kennt daher auch keine absolute Trennung zwischen Realität und Inszenierung, Leben und Tod. Im Ritual wird Spiel zum Ernst. Warum also sollte der den Gebeinen entlockte Klang etwas anderes sein als eine lebendige Stimme, die sich mitteilen will? Wurde der Spieler selbst zum Träger des Geistes, da er die Stimme von Knochen oder Elfenbein mit seinem eigenen Atem formt? Erst die Schriftkultur zieht jene Lebensentfremdung nach sich, die als die natürliche Voraussetzung für abstrakte Theorien und Konzepte betrachtet werden kann. Ein Sinn für das wortlose Geheimnis, den unhörbaren Klang, der in jedem Knochen, jedem Baum und Stein schlummert, hat sich gelegentlich dort erhalten können, wo seelische Empfänglichkeit auf eine vortreffliche Handwerkskunst trifft, und auf solche Weise segensreich ausgestattet ein Kontakt zur sinnlichen Erscheinung der Dinge gepflegt wird.
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Wenn jemand durch den Wald streift und gelegentlich mit der stumpfen Seite der Axt die Stämme anklopft, könnte es sich um einen Geigenbauer handeln. Er spürt ihr Schwingen, hört auf den Klang. (Vgl. Schleske, 2014, S. 14)
»An den reißenden Stellen der Gebirgsflüsse – so berichten die, deren Familien von jeher in der Tradition des Geigenbaus verwurzelt waren – standen ihre Väter und lauschten dem Aneinanderschlagen der Stämme, die sie täglich durch die Fluten hinab ins Tal flößten. Einige der Stämme begannen im Wasser zu schwingen, zu singen, zu klingen. Unter den vielen Stimmen erkannten die Meister so jene besonderen „Sängerstämme“ für den Bau ihrer Geigen.« (Ebd. S. 13)
Die uralten Traditionen, in denen Handwerk und eine geradezu spirituelle Qualität der Verbundenheit mit dem zu bearbeitenden Material eine unauflösliche Verbindung eingehen, reichen vermutlich bis in die Höhlen der eiszeitlichen Alb zurück – und es gibt sie heute noch. Davon zeugt etwa die Werkstatt des Geigenbauers Martin Schleske in der Altstadt von Landsberg am Lech.
»Der „Baum der Berufung“, dem man sich zuwendet, geht durch ein Sterben hindurch: Er wird geschlagen oder vom Wind gebrochen. Er sieht den Abgrund und den reißenden Bach. Ins Tal geflößt, wird er aus dem Wasser heraus in die Werkstatt des Meisters gebracht. Es ist wie die Taufe hinein in ein neues Leben. Denn der Baum wird der Gestaltungskraft des Meisters gegeben und dort zu einem Klang geformt, von dem er im Wald nichts wusste. Ein Psalmwort sagt: „Auch alle Bäume im Wald werden singen“ (96,12)« (Ebd. S. 25)
Was hier, christlich eingefärbt, als göttliches Potential des Menschen aufscheint – gilt das nur in einem metaphorisch Sinn, oder auch tatsächlich, für Tier, Pflanze, Natur schlechthin? Ist es die Aufgabe des Meisters, einen Klang zu formen, oder den Klang aus der Form zu befreien, sowie Michelangelo glaubte, die Skulptur dem Marmorblock zu entreissen? Handelt es sich bei solchen Ausführungen um mehr als Projektionen, schöne Metaphern vom Ursprung der Schöpfungskraft?
Ein verbreitetes Kriterium zur qualitativen Beurteilung von Kunst lautet: Wieviel Welt, wieviel Lebenswirklichkeit, in all ihren Facetten, vermochte der Künstler im Werk formal zu bewältigen, gestalthaft zu einer neuen lebendigen Einheit zu verschmelzen? Erstaunlicherweise gibt es kein künstlerisches Medium, in dem dies besser gelingen kann als in der Musik. Dort bezeichnen wir die Kunst der formalen Assimilierung als Komposition – wenn darunter mehr verstanden werden soll als das mehr oder weniger mechanische Aneinanderreihen passender Akkorde, ihre Strukturierung durch rhythmische Muster und Verknüpfung mit Melodieschnipseln. Musik spiegelt Lebensprozesse, versöhnt mit Leben und Tod. Das hat sie mit dem Mythos gemein. Im Klang einer Schubert-Symphonie dürfen wir wieder zu der vermeintlich verlorenen Einheit verschmelzen, die den Schöpfern der Flöten aus den Höhlen der Alb vielleicht noch selbstverständlich war. Der in Baum, Knochen oder Mammut angelegte Klang mag rudimentärer Natur sein, und so müsste man es wohl eine Übertreibung nennen, wollte man das Kunstwerk präformiert bereits im Material schlummern sehen. Und doch ist es nicht der Mensch allein, der aus unbelebter Materie geistig-seelische Wirklichkeit formt.
Alexander von Humboldt erkannte 1802 auf dem Gipfel des Chimborazo, den Blick auf die Weiten der Lebenswelt gerichtet, die Verbundenheit aller Geschöpfe. Mit dieser Vision von der belebten Welt als einem riesenhaften Organismus war zugleich die Idee der Ökologie geboren. Knapp sechzig Jahre später brachte von Humboldts glühendster Anhänger, der Naturforscher und Graphiker Ernst Haeckel, den Begriff zum ersten Mal zu Papier. (Wulf, 2016, S. 19 u. S. 383) Ökologie bedeutet im Grunde nichts anderes als eine Überwindung der Erfahrung von Wirklichkeit als einer Ansammlung voneinander getrennter Objekte in Raum und Zeit, mehr noch: eine Überwindung der Ansicht vom Selbst als ein von der Umwelt isoliertes Subjekt. Das hat sie mit dem Mythos gemeinsam, den von Humboldt gerne überwunden glaubte, dessen Verlust andere hingegen wortreich beklagt haben. In der Musik vollzieht sich die Aufhebung der Trennung noch heute mühelos. Hörend erhalten wir Einsicht in Lebensprozesse, Anschluss an eine umfassendere, unserer Lebenswirklichkeit zugrundliegenden Realität, ohne auf die Durchsetzungskraft eines »Meisters« angewiesen – oder seiner Willkür ausgeliefert zu sein.
Wie die Suche nach dem Ursprung großer Flüsse, etwa des Rheins oder der Donau, die über Jahrmillionen ihren Lauf ändern oder ihr Wasser an einen konkurrierenden Fluss abgeben mussten, erweist sich auch die nach der Quelle von Musik und Kunst als labyrinthisch. Müssen wir den Mythos nicht, unabhängig von geographisch bestimmbaren Orten, als eigentliche Quelle von Kunst und Musik annehmen? Wie die Donau im porösen Fels der Schwäbischen Alb zuweilen verschwindet, um ihren Weg als Unterweltfluss fortzusetzen, oder ihr Wasser an konkurrierende Flüsse wie den mächtigen Rhein oder die kleine Wutach abgibt, lebt auch der Mythos im Fremden und Verborgenen fort.
Dem Mythos, verstanden etwa als eine Fähigkeit des Geistes, uns in der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar mit Ursprünglichem zu verbinden, ist es gleich, unter welchem Namen er sich manifestiert. Was kümmert es das Wasser, unter welchem Namen es fließt? Aus weiterer Perspektive, gedacht in geologischen Zeitaltern, sind Quellen und Flussverläufe flüchtig wie alle Namen, Fakten, Jahreszahlen. »Schläft ein Lied in allen Dingen…«: Musizieren als Metapher – oder doch als pure Magie? Wie bringt man die Dinge zum Sprechen, zum Singen? Einige mythische Kosmologien verorten den Ursprung der Welt im Klang. Wenn der Klang ein Universum hervorzubringen vermochte, lässt sich das Experiment vielleicht wiederholen, hier und jetzt? Ich denke darüber nach, während ich mir ein Glas Wein einschenke …
Ein Beitrag von Martin Weyers
Martin Weyers arbeitet als freischaffender Künstler (Malerei, Zeichnung, Druckgraphik), mit Atelier in der Metropolregion Rhein-Neckar (Ludwigshafen am Rhein). Mitglied im Berufsverband Bildender Künstler, BBK Mannheim. Studium der Europäischen Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen zu Symbolik, Kunst- und Naturphilosophie. 1. Vorsitzender von Symbolon –Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e. V. Seit mehr als zwanzig Jahren enge Zusammenarbeit mit der Joseph Campbell Foundation, insbesondere als »Mythological RoundTable® Coordinator«, hauptverantwortliche Betreuung eines weltweiten Netzwerks von etwa 40 Mythologie-Studiengruppen auf allen fünf Kontinenten. www.martinweyers.com ; www.sukhavati.de ; www.symbolforschung.org
Literaturhinweise:
Conard, Nicholas J. / Bolus, Michael / Dutkiewicz, Ewa / Wolf, Sybille, Eiszeitarchäologie auf der Schwäbischen Alb. Die Fundstellen im Ach- und Lonetal und ihrer Umgebung. Reihe: Tübingen Publications in Prehistory. Tübingen (Kerns) 2015.
Conard, Nicholas J. / Kind, Claus-Joachim, Als der Mensch die Kunst erfand. Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb. Darmstadt (wbg Theiss) 2019.
Conard, Nicholas J. / Wolf, Sybille, Der Hohle Fels in Schelklingen. Anfänge von Kunst und Musik. Reihe: Tübingen Publications in Prehistory. Tübingen (Kerns) 2020.
Floss, Harald: „Geisterstunde! Hinweise auf apotropäische Praktiken im Jungpaläolithikum Europas“. In: Bosinski, Gerhard / Strohm, Harald (Hrsg.), Höhlen, Kultplätze, sakrale Kunst. Kunst der Urgeschichte im Spiegel sprachdokumentierter Religionen. Paderborn (Wilhelm Fink) 2016. S. 189-206.
Grube, Nikolai: „Löcher in der Stein-Zeit“. In: Bosinski, Gerhard / Strohm, Harald (Hrsg.), Höhlen, Kultplätze, sakrale Kunst. Kunst der Urgeschichte im Spiegel sprachdokumentierter Religionen. Paderborn (Wilhelm Fink) 2016. S. 109-141.
Huby, Felix, Bienzle und die schöne Lau. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1985.
Lewis-Williams, David / Pearce, David: Inside the Neolithic Mind: Consciousness, Cosmos and the Realm of the Gods. London (Thames & Hudson) 2005.
Lewis-Williams, David, The Mind in the Cave: Consciousness and the Origins of Art, London (Thames & Hudson) 2002.
Mörike, Eduard, Die Historie von der schönen Lau. Berlin (Insel) 2017.
Radisch, Iris: „Das Geistige in der Natur: Der tiefste See der Welt in Blaubeuren, gleich hinterm Kloster“. In: Die Zeit, Nr. 42/1997 – Externer Link: https://www.zeit.de/1997/42/blau.txt.19971010.xml (abgerufen am 14.03.2021)
Schleske, Martin, Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens. München (Goldmann) 2014
Wulf, Andrea, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München (C. Bertelmann) 2016.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Wieder was mehr gelernt! Ein guter Text welchen du geteilt hast.
Es ist nicht so einfach zu diesem Thema im Internet was zu finden.
Vielen Dank! Ich habe selber sehr viel gelernt, durch das Verknüpfen von Reisen, Mythologie und Musik.
Vielen Dank! Wunderbar.
Mein Kompliment für diese interessante, tiefschürfende
Untersuchung und Zusammenfassung aller Forschungen
über die Mythologie der SCHWÄBISCHEN ALB!
Schon früh in der Schule faszinierte die Geschichte von der
SCHÖNEN LAU und daraus ergab sich ein Besuch der Alb,
leider ohne dieses Wissen.
Dorothee Merseburger-Zahrnt