Ein Gruß
Diese Liebesgeschichte beginnt so einfach, dass mancher, der über Dante schrieb, sie als unglaubwürdig und romanhaft bezweifelte oder ganz verwarf. Warme Frühlingssonne erleuchtet die Hügel der Toskana und die Gassen und Gärten der Stadt am Arno. Florenz ist schon eine der größten europäischen Städte dieser Zeit. Noch überragen nicht die weit ausladend gewölbte Kuppel Brunelleschis und der marmorweiße Campanile Giottos die ziegelroten Dächer. Sondern die düsteren, schmucklosen Wohntürme der untereinander vielfach zerstrittenen Adelsgeschlechter werfen, wie es heute nur noch in San Gimignano zu sehen ist, ihre Schatten auf ärmlichere Quartiere. Es ist der 1. Mai des Jahres 1274. Der begüterte Kaufmann Folco Portinari gibt in seinem Garten mit Musik, Wein und Speisen ein Blütenfest. Eingeladen sind Geschäftsleute und Nachbarn, unter ihnen auch die zum niederen Adel gehörende Familie Alighieri. Ihr Sohn Dante, noch nicht ganz neun Jahre alt, erblickt zwischen den spielenden Kindern Bice, die Tochter des Hauses. Das rote Kleid leuchtet im frischen Grün des sprießenden Laubes. Sie steht, bezeugt der Dichter später, „im Beginn ihres neunten Lebensjahres“.
Die Begegnung entscheidet über sein ganzes Leben, nicht über den äußeren Ablauf, sondern über die Entwicklung seiner Seele. Sie dringt in seine ihm noch wenig bewusste Gefühlswelt so tief, dass er die in Kommentare eingebettete Gedichtsammlung über das Erlebnis und alles, was daraus noch folgen wird, „La vita Nuova“ nennt: Das Neue Leben. „Sie erschien mir, in ein Gewand von der edelsten Farbe gekleidet, blutrot, bescheiden und ehrbar, gegürtet und geschmückt nach der Weise, die ihrem allerjugendlichsten Alter geziemte. In diesem Augenblick, das kann ich wahrhaftig sagen, begann der Geist des Lebens, der in der geheimsten Kammer des Herzens wohnt, so heftig zu zittern, daß er mir in den leisesten Pulsen furchtbar erschien; und zitternd sagte er die folgenden Worte: Siehe, ein Gott, der stärker als ich ist und der daherkommt und mich beherrschen wird.“
Zu Dantes Biographie ist wenig Gesichertes überliefert. Er wurde wohl am 30. Mai 1265 in Florenz geboren, zog als junger Mann für seine Stadt in einen Krieg, heiratete und bekleidete ein Staatsamt. Er wurde von politischen Gegnern gejagt, gefasst und zum Tode verurteilt. Als ein Verbannter und später in diplomatischem Dienst zog er dichtend umher und sah seine Vaterstadt nie wieder. In der Nacht vom 13. zum 14. September 1321 starb er in Ravenna. Einige Lebensumstände sind aus seinen Dichtungen erschlossen worden. Heller als alles erstrahlt darin ein Stern namens Beatrice.
War aber Beatrice das Mädchen mit der umgangssprachlichen Form ihres Namens Bice? Liegt dem, was Dante selbst uns darüber erzählt und andere bezeugen, eine wahre Liebesgeschichte zugrunde? Wir wissen es nicht. Sein erster Biograph Giovanni Boccaccio (1313-1375), bekannt als Verfasser der leichtfüßigen Novellensammlung „Dekamerone“, will von Zeitgenossen erfahren haben, dass sie „im Verhältnis zu ihren Jahren recht artig und in ihren Gebärden sehr edel und gefällig war und von Reden und Betragen, die viel ernster und gesitteter waren, als ihr Alter es erheischte; überdies hatte sie Gesichtszüge, die recht fein und ebenmäßig waren und, abgesehen von der Schönheit, voll von so edlem Liebreiz, daß sie von vielen fast für ein Engelein geachtet wurde.“ Er beruft sich bei dieser Schilderung Beatrices auf Auskünfte naher Verwandter, setzt also schon die Zweifel seiner Leser voraus. Der Erzähler amüsanter, lasziver und sinnenfroher Liebesabenteuer urteilt aus dem Abstand einer anderen Generation, der Dantes ätherische Art zu lieben kaum verständlich erscheint, dennoch sehr einfühlsam: So ohne „lüsterne Begierde“ sei sie „kein geringes Staunen der gegenwärtigen Welt, aus der jedes ehrbare Vergnügen geflohen ist und die sich daran gewöhnt hat, das, was gefällt, ihrer Unzüchtigkeit nach zu besitzen, bevor sie es zu lieben erwogen hat.“
Gerade der besitzergreifende Eros fehlt Dantes Liebe zu Beatrice in den folgenden Jahren, in denen die neugierigen Wünsche der Pubertät nicht ausgeblieben sein können. Lange geschieht in dieser Liebesgeschichte, wenigstens äußerlich, nichts. Die beiden sind Nachbarskinder, und doch haben sie sich, folgt man der „Vita Nuova“, nach neun Jahren erst wiedergesehen. Vielleicht halten eine strenge Erziehung und der Standesunterschied ihre Wege so weit voneinander entfernt, dass nicht einmal ein Zufall sie zusammenführt. Die genau gestaffelte Abfolge von Strafe, Bewährung und Erlösung, die der Dichter in der „Göttlichen Komödie“ seiner Wanderung durch das Jenseits unterlegt, lässt auf eine sehr pedantische häusliche Pädagogik im Klima von Sünde und Vergebung schließen, die, früh verinnerlicht, in das Verhältnis zum anderen Geschlecht so starke Hemmungen eingebaut hat. Vielleicht zählt es in der Phantasie des Knaben nicht, wenn man einander nur flüchtig und von fern erblickt, vielleicht sind die Kinder auch dazu angehalten worden, ihre Blicke abzuwenden. Denn in seinem Herzen gehen, noch ohne dass er sich darüber Rechenschaft ablegen könnte, zarte und große Dinge vor. Doch auch die Wiederbegegnung – sie besteht eigentlich nur aus einer Geste – leitet keine neue Etappe, keine Annäherungsversuche ein, zu denen etwa die Lektüre des Ovid ihm Rezepte hätte liefern können. Er ist nun achtzehn Jahre alt und sie etwas über siebzehn.
Diesmal kommt ihm das „wunderbare Mädchen“ auf der Straße entgegen, so dass kein Ausweichen mehr möglich ist, „ in das allerweißeste Gewand gehüllt und inmitten zweiter edler Frauen von älteren Jahren.“ Und der junge Mann verharrt wie angewurzelt, „furchtsam und schüchtern“. Auch Beatrice erkennt ihn wieder, auch sie hat also das Fest im elterlichen Garten an jenem Maientag nicht vergessen. Sie grüßt ihn „sehr tugendlich“. Ist seit damals auch in ihrem Herzen etwas vorgegangen? Oder weiß sie sich nicht anders aus seinem überraschten, fast schreckensstarren Blick zu lösen? Ihr schlichtes Grußwort übersteigert für ihn das Ereignis. Der Verliebte empfindet solch eine „Wonne“, dass er das „Endziel aller Seligkeit zu schauen“ meint, und er eilt „wie trunken aus der Menge“.
Zu Hause, „in der Einsamkeit eines Zimmers“, fällt er wie betäubt aus dem langen Nachsinnen über „jene Liebenswürdige“ in tiefen Schlaf. Aus „feuerfarbenem Nebel“ tritt ein Traumgesicht: Eine gebieterische Gestalt, furchtbar zu schauen, sagt zu ihm: „Ich bin dein Herr!“ In seinen Armen schläft ein Weib. Es ist völlig nackt. Der Träumende erkennt „die Herrin des Grußes“. Die Hand des Gebieters aber hält etwas Glühendes und spricht: „Sieh hier dein Herz!“ Und nun vollzieht sich das schicksalhafte Gleichnis: Die Schlafende erwacht und tut, was Amor – denn kein anderer ist die gebieterische, wie von magischen Kräften umspielte Traumgestalt – ihr befiehlt: Sie isst das Herz des Träumenden, „zuletzt mit Zögern“. Dann überkommt das herrische Wesen, das den Befehl gab, „das bitterste Weinen“. Voller „Angst und Beklemmung“ sieht der Träumende, wie Amor „jenes Weib wieder in seine Arme“ nimmt und mit ihr gen Himmel schwebt, und er erwacht.
So viel Symbolhaftes, das scheinbar leicht begreiflich ist und für sich selbst spricht, hat manchen Dante-Forscher stutzig gemacht. Was da erzählt wird, hat zwar die Gestalt eines poetischen Tagebuches, ist aber viel später, vielleicht um 1293, niedergeschrieben worden. In dem Bewusstsein späterer Jahrzehnte entspricht Amor nicht mehr allein der sinnlichen Liebe, dem leidenschaftlichen Verlangen nach Schönem, wie es der griechische Gott Eros verkörperte, sondern auch der christlich-platonischen Liebe von Geschöpf zu Geschöpf, der „Nächstenliebe“, der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und der Liebe der Menschen zu Gott. Er ähnelt dem thronenden Weltenherrscher Christus, auch wenn es der Traum noch nicht enthüllt hat. Doch ein nacktes Weib in seinen Armen? Eine Blasphemie!
Wirkt dieses Geflecht aus Symbolen nicht allzu perfekt, als dass man alles für wahr halten dürfte? Der Dichter stützt das, was ihm bedeutsam erscheint, auf eine pedantische Zahlensymbolik, in der die Neun eine besondere Rolle spielt. Hätte er aber alles erfunden, wäre es nicht nötig gewesen, arabische Kalendarien zu bemühen, damit diese mystischen Zahlenspiele aufgehen. Der Name Beatrice bedeuten „die Beseligende“, passt also genau zu dem, was sie für Dante bedeuten soll. Ist es dann nicht zu voreilig und kurzschlüssig, das Mädchen mit Bice Portinari gleichzusetzen?
Weibliche Decknamen wie Lesbia, Cynthia, Lycoris, Delia und Corinna benutzte die antike Liebeslyrik gerade, wenn sie die irdische, sinnliche Liebe besang. Dantes Name, „der Gebende“, passt schließlich auch zu dem Dichterphilosophen, als der er in die Welt des Geistes einging, wie ausgesucht und ist nicht erfunden. Ist Dantes Liebe zu Beatrice aber etwas anderes als christliche Frömmigkeit, wenn der Gruß sich symbolisch mit dem Namen des Mädchens verbindet, indem er dem Gegrüßten das Heil seiner Seele verheißt, ihn aus der „umilità“ seiner Erbsünde in die Gemeinde derer emporhebt, denen vergeben werden soll, und somit zum Inbegriff des höchsten Glücks, zu einer „unio mystica“ unter Gläubigen wird? Bringen die beiden Gewandfarben nicht eine weitere Symbolik in diese Liebesgeschichte, die ihnen das Zufällige einer tatsächlichen Begegnung nimmt? Das rote Gewand der ersten bezeichnete dann wohl das Liebeserwachen, das weiße der zweiten die engelhafte Reinheit. Könnten die beiden älteren „Donnen“, mit denen dieser grüßende Engel vorübergeht, nicht das Alte und das Neue Testament verkörpern? Spielt der Titel „Vita Nuova“, unter dem Dante dies erzählt, an den sechsten Römerbrief des Apostels Paulus an, in dem es über das Mysterium der Taufe und der Auferstehung Christi heißt: So sollen „auch wir in einem neuen Leben wandeln“? Schildert Dante in seinem Büchlein nicht mit modischen Mitteln der Zeit eine religiöse Erweckung? Ist seiner Liebe zu der schemenhaften Beatrice etwas anderes als das erstrebte Leben in der Gemeinschaft mit Gott?
Die poetische Mode, die in Dantes Zeit aufkam und deshalb seine Liebesgeschichte als eine frei erfundene verdächtig macht, hieß „dolce stil nuovo“, der „süße neue Stil“. Der um 1276 gestorbene Poet Guido Guinzinelli hat sie mit Balladen, Kanzonen und Sonetten begründet. Während seines Studiums an der Universität Bologna, über das uns genauere Daten fehlen, kann Dante Dichtungen dieser Art kennengelernt haben. Guinzinellis neue Poetik findet in der Liebe das Motiv, ein besserer Mensch zu werden. Eine geliebte Frau gilt ihm als ein göttliches Idealbild der Tugend. Zu lieben heißt ihm, einer schönen Frau würdig zu werden. So lieben zu können, ist für ihn ein Adel des Herzens und des Geistes, den er über den Geburtsadel stellt. Auch andere Dichter dieser Zeit, unter ihnen Cino da Pistoia (um 1270 – um 1336), vor allem aber der ältere und mit Dante befreundete Guido Cavalcanti (um 1259 – 1300), stilisieren, geschult am Gesang provenzalischer Troubadours, am Minnesang des Hochmittelalters, die Liebe zu einem Sinnbild christlicher Frömmigkeit und zu einem Vorgefühl des Paradieses. Dass Dante einen Teil seiner Studienzeit in Paris verbracht und dort selbst französische Vorbilder kennengelernt haben könnte, kann nicht belegt werden. Sicher ist aber: Im Hintergrund seiner Dichtung steht Franz von Assisi, der 1228, nur zwei Jahre nach seinem Tod, heiliggesprochen wurde. Eine „franziskanische“ Richtung der Literatur, die sich ganz seinen Lehren verpflichtet fühlte, nannte ihn auch den „Troubadour Gottes“. Die Bettelmönche, bei denen Dante in die Schule ging, lebten im Kloster seiner Taufkirche Santa Croce, in der Dantes Gebeine ihre letzte Ruhe fanden und Boccaccio später die ersten Vorlesungen über ihn hielt.
Das letzte Kapitel der „Vita Nuova“ wirft ein merkwürdiges Zwielicht auf das, was der Dichter erzählt: Es kündigt die „Göttliche Komödie“ und die Verklärung Beatrices an. Verklärt werden kann allerdings nur etwas, das zuvor profan gewesen ist. So zart, rein, tugendhaft und vergeistigt Dantes Liebe schließlich werden mag – in seinem Traum hat er Beatrice nackt gesehen. Der Dichter zähmt die wilde, begehrliche Spannung einer Liebe, die eigentlich jede Moral entwaffnen würde, damit seine Seele sich den Forderungen des Jenseits öffnen kann. Nicht ohne eine poetische Raffinesse gibt der schüchterne Mann den christlichen Geboten der Tugend, des Verzichts und der Nächstenliebe das Aroma einer sublimierten Erotik.
Das verlorene Lächeln
Ein der Welt zugewandter Mann wird Dante in doppeltem Sinn: Er wendet sich zunächst der Dichtkunst und dann der Politik zu. Ersten Ruhm erntet er 1283, im Jahr des Grußes. Mit Erfolg ist er als Lyriker an die Öffentlichkeit getreten. Der „Canzoniere“, eine subtile Gedichtsammlung, deren Anfänge in diese Zeit zurückreichen, weiß noch von irdischen und flatterhaften Liebeleien mit mehreren Mädchen, mit einer Pietra, einer Violetta, einer Pargoletta, einer Lisetta. Was Beatrice angeht, so bescheidet er sich mit dem beseligenden Ritual, einander zu sehen und zu grüßen. Anders will es der Liebende nicht, denn „aus Liebe“ fühlt er sich „hinfällig und schwach“ werden. Die seelische Erregung lähmt ihn körperlich. Die Affektation packt ihn so, dass er den Mut zu weiterführenden Schritten verliert. „Und wenn das allerliebste Weib grüßte, da stand die Liebe nicht etwa im Wege, so daß sie die schier unerträgliche Seligkeit verfinstert hätte, sondern gleichsam durch ein Übermaß der Wonne wuchs sie so, daß mein Leib, der ganz ihren Geboten unterworfen war, sich nur wie etwas Schweres und Lebloses bewegte.“ So könnte es weitergehen.
Da nimmt die Liebesgeschichte doch eine unverhoffte Wendung: Beatrice erwidert seinen Gruß nicht mehr. Warum? Hat sie etwas von seinen Abenteuern erfahren? Wird sie eifersüchtig? Es kommt schlimmer: An einem Ort, „wo viele liebliche Frauen versammelt“ sind, „unter ihnen die holdselige Beatrice“, auf der Hochzeit einer „vornehmen Dame“, gerät er, bei ihrem Anblick buchstäblich entgeistert, in ein nervöses Zittern. Es bleibt nicht unbemerkt. Die jungen Frauen machen sich zusammen „mit jener Lieblichsten“ laut über ihn lustig. Eine der Frauen, die ihn verstohlen belächelt haben, fragt ihn bei einer anderen Gelegenheit: „Zu welchem Ende liebst du jenes Weib, da du ihre Gegenwart doch nicht ertragen kannst?“ Und sie spricht aus, was sie vermutet: „Das Ziel solch einer Liebe muß ganz ein neues sein.“ Der zaghafte Liebhaber ist zum Stadtgespräch geworden, und selbst erfährt er es zuletzt. In einer großen Kanzone erklärt er sich: „O Frauen, die ihr wißt, was Liebe sei …“. In der Art der Minnelyrik fährt er fort und zeichnet das Bild einer keuschen Liebe, die, fern aller Begierden, sich ins Metaphysische gesteigert hat, die in der Schönheit einer reinen Frau, auch in der Schönheit des Gesichts und im „Adel ihres Leibes“, Gott als Schöpfer des Universums anbetet, die in vollkommener Unschuld die Verkörperung einer Idee verherrlicht und den sehnlichen Wunsch weckt, „ihr zu gleichen“, die das Erscheinen der schönen Frau voll Ehrfurcht als Gottesanbetung erlebt und ihr Lächeln als Hoffnung auf eine Erlösung von „der Hölle Grauen“ feiert.
Wieder regt sich ein Verdacht, alles, was wir über Beatrice erfahren, sei Allegorie. Ist diese Liebesgeschichte nur eine theologische Parabel? Sollte es keinen irdischen Anstoß gegeben haben, den Augenblick, in dem nach einer alten Vorstellung Cupidos Pfeil direkt in das Herz des Dichters getroffen hätte? Warum ein wirkliches Liebeserlebnis bezweifeln, dessen Muster Allegorie und Parabel nur nachzeichnen? Sollte eine so früh aufkeimende, so verhalten zärtliche, so bis zur Sinnenferne keusche Liebe nicht möglich gewesen sein? Könnte er nicht viel eher diese Mädchen Pietra, Violetta, Pargoletta, Lisetta nur erfunden haben? Dante selbst verrät, er habe einige seiner Liebesgedichte nur vorgeblich an andere Frauen gerichtet, um seine wahre Liebe zu Beatrice geheim zu halten. In diesen Versen setzt er ausdrücklich Erfahrungen mit wirklichen, liebeskundigen Mädchen voraus. Dann wäre die Verweigerung des Grußes ein Missgeschick mit einem realen Grund: Der edelste aller Liebhaber hätte mit ein paar amourös bramarbasierenden Liebesliedchen zwar die Gunst des Publikums erworben, sich aber zugleich um das Lächeln seiner Angebeteten gebracht, das ihm die Verheißung der ewigen Seligkeit bedeutete, und seine einzige Liebe wäre verloren. Er hat noch nicht um ihre Hand angehalten, da wird ihm schon bedeutet, dass er abgewiesen würde.
Nicht dass es keine derberen Vergnügungen gegeben hätte, die ihm verargt werden und nun wie eine unwürdige Entgleisung das Gewissen beschweren. Boccaccio bezeugt, Dante habe zur „Fleischeslust“ sehr wohl eine starke Neigung gehabt. Der Dichter der „Vita Nuova“ verwechselt sie aber nicht mit Liebe. Sie ist ihm nicht ins Herz gefahren und hatte mit dem gebieterischen Amor, der in seinem Traum Beatrice sein Herz zu essen gab, nichts zu tun. Freilich, seine Unschuld verlor er dabei. Die bloße Lust gehört, wie ihm die Verweigerung des heiß begehrten Grußes und die spöttische Bloßstellung seiner wahren Liebe bitter zu erkennen gibt, unter die verdammungswürdigsten Dinge. Angefüllt sein mit Strafen für eine wollüstige Liebe wird das „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“, etwa für die zwischen Francesca da Rimini und Paolo, dem Bruder ihres widerwärtigen Gatten Gianciotto Malatesta, die 1286 beide das Leben gekostet hatte. Dante selbst muss auf der siebenten Ringterrasse des „Purgatorio“, wo die Lüsternen büßen, in den Flammenkreis eintreten, um das letzte Zeichen der Schande an seiner Stirn auszulöschen.
Zum tändelnden Flatterer, zum Schürzenjäger ist ein Mensch wie Dante aber gar nicht geschaffen. Schauen wir ihn doch an, wie ihn Nardo di Cione, Giotto, Raffael und andere übereinstimmend porträtiert haben: Der hohe, schmale Schädel, die hageren, mit zunehmendem Alter tief gefurchten Wangen, das starke Kinn, die dünnen Lippen und die überlange, schmal gebogene Nase verraten einen tiefernsten, ehrgeizigen, selbstbewussten und in seinem Stolz, wie Boccaccio sagt, leicht reizbaren Mann. Die moderne Psychologie hat mit ihren Standardbegriffen wie „Ödipuskomplex“ oder „Narzissmus“ manches von dem verdeutlicht, was in griechischen Mythen vorgeprägt war. Sie kann auch das Rätsel Dante lösen. Dass an seiner Liebesgeschichte mit Beatrice vieles eine spätere Interpretation der eigenen Gefühle ist, macht diese Gefühle und die Person, der sie gelten, noch nicht zu Erfindungen. Das Testament des Folco Portinari vom 15. 1. 1288 bezeugt, dass er wirklich eine Tochter namens Beatrice hatte. Sie war zu der Zeit mit Simone de‘ Bardi verheiratet, kann also, wie aus Dantes Angaben zu errechnen wäre, 1266 geboren sein. Am 9. Juni 1290 ist sie gestorben. Es mag als Kunstgriff gelten, eine Liebe, die von Sex nichts wissen soll, in ein möglichst frühes Alter zu legen. Das schließt aber gerade nicht aus, dass es sie wirklich gegeben hat. Die Kindlichkeit Beatrices steht bei der ersten Begegnung für ihre Reinheit, ihre Unschuld, ihre Jungfräulichkeit und macht sie tabu für irdisch-sinnliches Begehren; ihr früher Tod öffnet für die Liebe Dantes, die von jeder irdischen, ehelichen Verbindung absah, die Ewigkeit. Die für eine allererste Liebe, für eine „Kinderliebe“ nicht untypische sofortige Verklärung des Mädchens will gar keine wirkliche Annäherung. Es gibt für diese Art zu lieben keine Hoffnung, verstanden zu werden. Nur die „Seele“ des Verliebten kann ein Partner der Geliebten sein, und sie ist der anderen „Seele“ auch sogleich „angetraut“. Ein noch vorpubertäres und doch schon heftiges, entmutigend heftiges erotisches Erlebnis des Knaben, der sich des natürlichen Ziels seiner Wünsche gar nicht bewusst und dafür physisch nicht reif genug ist, entwickelt sich an seiner Pubertät vorbei zu jener „keuschen“ und anbetenden Liebe zu einem „Engel“, zu einer idealen Frau, in der ihm Gott erscheint. So wird Eros zur Frömmigkeit sublimiert. So wird, einmal mit C. G. Jung gesprochen, das Mädchen Beatrice zu einer „Projektion“ des im kollektiven Unbewussten dieses Zeitalters schlummernden Ich-Ideals.
Solch eine Sublimation des Eros ist aber niemals die Sache kalter und trockener Naturen. Es muss eine Kraft da sein, die das Sublimieren betreibt. Daraus folgt, dass ein starker Geschlechtstrieb zu großen poetischen Bildern führen kann. Lange vor Freud hat es Nietzsche durchschaut, dass die Geschlechtlichkeit eines Menschen bis in seine höchste Geistigkeit hinaufreiche, dass es sich um „ein und dieselbe Kraft“ handelt, „die man in der Kunst-Konzeption und die man im geschlechtlichen Akt ausgibt“, dass es namentlich aber die Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit“ sind, die „im Christentum ihren Fund gemacht“ haben. Dante interpretiert als Dichter den Augenblick, in dem, weltlich gesehen, sein Herz von Cupidos Pfeil getroffen wird, also als seine religiöse Erweckung. Das passt zu einer Begegnung im Kindesalter, die das Feuer, das sie geweckt hat, als das reine und unerotische, also göttliche ausweist, das er für seine Dichtung braucht. Er kann dazu aber nur das benutzen, was ihm in irgendeiner Weise tatsächlich einmal zugestoßen ist. Ohne ein wirkliches Geschehnis keine Deutung. Was gäbe es zu deuten? Es muss sich ungefähr so abgespielt haben, wie es Dante erzählt und Boccaccio, der mit der eigenen dichterischen Intuition das Herz eines Dichters erkennt, bestätigt. Bloße Erfindung verriete sich durch Künstlichkeit. Jeder Leser der „Vita Nuova“, der sich an seine eigene allererste Liebe noch erinnern kann, wird Dante gerade da, wo er wie ein Scholastiker des eigenen Erlebens die Verse seiner Dichtung umständlich erläutert und kommentiert, wo er also genau das tut, was man einem modernen Dichter sehr verübeln würde, dafür bewundern, wie genau er die Gefühlsphasen des präpuberalen, noch sexfreien Sichverliebens schildert und daraus eine Grundformel für die menschliche Liebesfähigkeit gewinnt: Eine Liebe, die sinnliches Begehren, den Wunsch, sich der Geliebten körperlich zu bemächtigen, sie zu „besitzen“, überwunden hat, wird unverlierbar. Wäre aber die lächelnde, grüßende und die den Gruß verweigernde Beatrice nichts als eine Allegorie und die vergeistigte Liebe Dantes nichts als theologisch-metaphorische Parabel, stünde hinter dieser vergeistigten Liebesgeschichte keine wirkliche des Herzens – Dantes Dichtung wäre nie zu der überragenden Bedeutung gelangt, die sie weit über die seiner zumeist vergessenen Zeitgenossen erhebt.
Ein Mann der Pflicht
Dante Alighieri ist ein glühender Liebhaber in seiner Dichtung. In seinem Leben bleibt er immer ein Mann der Pflicht. Lebende, die das Lächeln der Geliebten verloren haben, treibt es oft hinaus in die Welt. Dante zieht 1289 für seine Vaterstadt Florenz in den Krieg. Seine ersten Mannesjahre fielen in das schreckliche, gesetzlose „Interregnum“ nach dem Tod es Kaisers Friedrich II. und dem Ende der Stauferherrschaft. Die Städte Oberitaliens, meist Republiken, waren trotz der ständigen Spannungen mit deutschen Kaisern durch Handel und Gewerbe reich geworden. Das sicherte sie gegen karge Zeiten, weckte aber auch den wechselseitigen Neid und lenkte die Augen von Beutemachern auf sie. Venedig hatte als Seehandelsmacht die byzantinische Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer gebrochen; mit der Reise des Marco Polo dehnte es seine Handelsbeziehungen weit in den fernen Osten aus. Genuas Flotte beherrschte das westliche Mittelmeer und stellte 1277 zum ersten Mal seit dem Ende der Antike die Verbindung mit Nordeuropa über den Atlantik wieder her. Die kleineren Seerepubliken Pisa und Amalfi verloren an Einfluss. Im Kampf gegen die letzten Staufer Manfred und Konradin hatten, zusammen mit dem Papst, die Banken von Florenz den Bruder König Ludwigs XI. von Frankreich, Karl von Anjou, dabei unterstützt, die ehemals staufischen Besitzungen in Unteritalien und auf Sizilien zu übernehmen, in seinen Bemühungen um die Kaiserkrone des „Heiligen Römischen Reiches“ allerdings nicht. In dem Herrschaftskonflikt zwischen Kaiser und Papst, der mit dem Untergang der Staufer wieder aufgeflammt war, hatten sich zwei Adelsparteien herausgebildet, die heftig einander bekämpften und die Städte entzweiten. Die „Ghibellinen“, die den Namen von der Stauferburg Waiblingen ableiteten, vertraten die zentralistische Macht des Kaisers und waren aristokratisch gesinnt. Die „Guelfen“, so genannt nach dem Gegenkaiser Otto IV. aus dem Geschlecht der Welfen, dachten föderalistisch, betrieben eine Politik, die mehr den partikularistischen Interessen diente, und gaben sich volksnah. Beide Seiten hatten es schwer, sich durchzusetzen. Die päpstlich gesinnten „Guelfen“ warfen den „Ghibellinen“ die „staufische Freigeisterei“ vor. Sie waren aber selbst angreifbar, denn sie erlaubten dem Papst, mit kirchlichen Interessen in die städtische Verwaltung einzugreifen. Florenz, die Stadtrepublik, die auf der Seite der „Guelfen“ stand, nutzte die Schwäche des Kaisertums und die seiner Anhänger aus, um ungestört ihre Fehden mit den Nachbarn auszutragen. In Pisa und in Arezzo revoltierten 1287/88 die „Ghibellinen“ und fielen von Florenz ab. Der junge Dante ritt, Beatrice im Herzen, mit den Siegern in das niedergeworfene Arezzo ein, und er war vermutlich auch dabei, als Pisa wieder eingenommen wurde.
Dantes Elternhaus und seine Vorfahren, weder arm noch reich, schrieben ihm eine politische Laufbahn gewissermaßen vor. Angehörige des niederen Adels, als Grundherren zugleich Stadtbürger, waren sie der annähernd demokratischen Verfassung von 1250, die seit der einer Revolte des „Popolo“ galt, verpflichtet. Ihre Herkunft leiteten sie über einen Ahnen namens Cacciaguida stolz von den Römern ab, also auch von deren mythischem Ahnherrn Aeneas und den Trojanern. Der junge Dante schrieb sich in die Zunft der Ärzte und Apotheker ein und war wohl beruflich als Mediziner tätig. 1295 gehörte er zu einer Kommission, die das Wahlgesetz reformierte, 1297 zum „Consiglio del Podestà“, einem Kreis von Beratern des Bürgermeisters, und 1300 zu den sechs Prioren, die eine „Signoria“ bildeten, eine Art Senat nach römischem Vorbild.
Inzwischen war er auch Ehemann und, wohl seit 1293, Familienvater. Schon im Alter von zwölf Jahren hatte ihn sein Vater mit Gemma Donati verheiratet. Seine Liebe zu Beatrice ist also die eines verheirateten Mannes zu einer verheirateten Frau, für die Poesie der Troubadoure kein Hindernis, sondern beinahe eine Bedingung: Die eheliche Bindung besiegelt gleichsam die irdische Unerreichbarkeit. Im Alltag mag den jungen Menschen das Gebot, zu verzichten, noch gepeinigt haben. Dem Erwachsenen scheint es dann ganz selbstverständlich, dass eine „Herzensliebe“ und das eheliche Geschlechtsleben, das, wie es der bürgerliche Status fordert, die familiäre Fortpflanzung sichert, nichts miteinander zu tun haben. Drei Söhne sind aus Dantes Ehe mit Gemma hervorgegangen: Giovanni, Pietro und Jacopo. Ob Antonia seine einzige Tochter war und sich erst bei ihrem Eintritt in ein Kloster Beatrice nannte, oder ob er einer anderen Tochter bei der Taufe diesen Namen geben ließ, lässt sich nicht mehr ermitteln.
Über eine Ehefrau bemerkt Boccaccio in seinem „Leben Dantes“: „Ein jeder, der sie nimmt, muss sie behalten, nicht wie er sie haben möchte, sondern wie das Glück sie gibt.“ Ein Versuch, von einer unerfüllten Liebe zu genesen, war Dantes Ehe sicher nicht. Ob sie allerdings dem Bild einer Ehefron entsprach, der Boccaccio als Kenner von Liebeshändeln einen langen Exkurs widmet, ist auch nicht sicher. Boccaccio unterstellt aber, Dante habe in seiner Verbannung 1302 den willkommenen Grund gefunden, sich von Gemma Donati zu trennen. Dass er meint, die Philosophie sei ein besseres Eheweib als alle anderen, klingt verdächtig nach Rhetorik. Der verbannte Dante hat seine Gemahlin wie Ovid, der andere verbannte Liebesdichter, bis zu seinem Tod nicht wiedergesehen.
Ein Beitrag von Dr. Volker Ebersbach
Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus dem Essay „Beatrice oder Die verklärte Herrin“, der in vollständiger Fassung in der Dante-Jahresschrift des Arbeitskreises erscheinen wird.
Volker Ebersbach studierte Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er auch promovierte. Er ist seit 1976 freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber von Erzählungen und Romanen, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biographien und Anekdoten. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Kroatische übertragen. 1985 erhielt er den Lion-Feuchtwanger-Preis. Von ihm erschienen sind u.a. „Heinrich Mann. Leben, Werk, Wirken“ (Reclams Universalbibliothek, 754. Leipzig 1978); „Rom und seine unbehausten Dichter“ (Essays, Mitteldeutscher Verlag 1985/87); „Nietzsches tragische Anthropologie. 2 Bde.“ (Leipziger Universitätsverlag 2002/2006); „Die letzte Fahrt der Württemberg. Erzählungen, Erinnerungen“ (VentVerlag 2012); „Ich liebe also bin ich – Stendhal, ein biografischer Essay“ (Shaker Media 2017).
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Oh,schön von Ihnen zu hören! Ich werde das jetzt in Ruhe lesen,bzw.irgendwie speichern.Ich bin gespannt darauf! Ich hoffe Ihnen und Ihrer lieben Frau geht es gut !!!( ungefähr ein halbes Leben nach unserer letzten Begegnung…)
Sehr herzliche Grüsse !
Alles Gute !
Ihre Annette Krisper-Beslic
(früher Annette Peuker-Krisper)
Dante beschreibt die Transformation der Seele eines Mannes. Die „Divina Comedia“ ist kein Roman sondern die Struktur der Seele bis sie Gott erreicht.
Bei uns Frauen ist das Prozess anders, wie Erich Neumann ihm beschreibt.