„Dies ist kein Märchen. Und es ist auch kein Traum. Sondern eine Lebenswende“ [1]
Viel ist in 700 Jahren geschrieben worden über Dante Alighieri (1265-1321), den florentinischen Dichter und Gelehrten, der dem Minnesang in der poetischen Prosa und in den Versen der „Vita Nuova“ (Das Neue Leben) huldigt, die Philosophie im Werk „Convivio“ (Gastmahl) zu Wort kommen lässt und seine nach dem Vorbild des Aristoteles entworfene Politiktheorie in der „Monarchia“ beschreibt. Berühmt und auf seine Weise berüchtigt wurde er indes durch sein Hauptwerk, die „Commedia“ (Komödie), heute zumeist unter dem Titel „Divina Commedia“ (Die Göttliche Komödie) bekannt, wobei das „Divina“ auf eine Anmerkung des Schriftstellers Giovanni Boccaccio (1313-1375) zurückgeht; eine ganz ureigene und zugleich seltsam zeitlose Reise in eine Anderswelt, die wir fürchten und deren wahre Gestalt sich unserer Erkenntnis entzieht. In seiner Dichtung durchmisst Dante das gesamte physische und geistig-seelische Universum des Mittelalters und hat es in einem gewissen Sinne innovativ neu erschaffen. „Niemand verlieh der Verbindung des Schöpfungssystems auf dieser Welt mit demjenigen im Jenseits einen vollkommeneren Ausdruck als Dante. Aus der Hölle steigt man in die intermediäre, zeitlich begrenzte Welt auf. Dort erhebt sich der Purgatoriumsberg zum Himmel, gekrönt vom irdischen Paradies, das nicht mehr in einem verlorenen Winkel des Universums, sondern auf seiner ideologischen Ebene, der Ebene der Unschuld zwischen der höchsten Läuterung im Purgatorio und dem Beginn der Glorifizierung im Himmel, liegt.“ [2]
Wer einmal mit den Zeilen dieses 100 Gesänge umfassenden Poems in Berührung kam, so wage ich zu behaupten, kann sich dem Sog aus Worten, sprachlichen Bildern, Mythologie, Theologie, Philosophie, Mystik, Geschichte, Psychologie und Imagination nur schwer entziehen. Ich entdeckte Dante während meines Studiums eher zufällig, und die „Commedia“ war einer der Gründe, mich intensiver mit der Mediävistik zu befassen. Auch dieser Tage hat mich die Faszination des Mittelalters wieder fest gepackt und auf eine Reise nach Köln gehen lassen, die mich u. a. in den zum Weltkulturerbe gehörenden Dom (Patrozinium des Apostels Petrus) führte. Fast in der Dante-Zeit, 1248, erfolgte die Grundsteinlegung für das gotische Bauwerk durch den Erzbischof Konrad von Hochstaden. Eine Entscheidung aus vornehmlich monetären und prestigeträchtigen Gründen, wie die Domführerin bemerkt. Denn ein Jahrhundert zuvor, 1164, waren die Reliquien der Heiligen drei Könige von Mailand nach Köln gelangt, wo sie noch heute im Dreikönigenschrein ruhen und weiterhin Pilger und interessierte Besucher anziehen.
Man fühlt sich im Kölner Dom ein wenig klein bei der Wanderung durch Chorumgang und Seitenschiffe, entlang von Heiligenfiguren und biblischen Szenen, ausladenden Säulen, opulenten Buntglasfenstern und Holzschnitzereien, und doch wirkt es fast, als sei man beim Gehen Teil von etwas Erhabenem, etwas Größerem, etwas, das Alt und Neu, Oben und Unten, Vergangenheit und Gegenwart in sich vereint. Es mag an der langen Bauzeit liegen (der Dom wurde erst 1880 vollendet), aber auch an dem, was unterschwellig beim Betrachten mitschwingt: Zeit und Raum scheinen beim Laufen und Staunen und Schauen, wenn auch nur für einige Augenblicke, keine Bedeutung zu besitzen. So ähnlich, wenn auch auf andere Weise geht es mir beim Lesen von Dantes „Commedia“, in der man sich auch fast ununterbrochen fortbewegt (als Leser) bzw. in der sich beständig fortbewegt wird; da sind die Reisenden (Dantes lyrisches Ich und seine jeweiligen Begleiter), die Sünder, die Geläuterten, die Himmelssphären, die Worte. Nie scheint etwas im Stillstand zu verharren, auch nicht bei den mannigfaltigen Gesprächen, die geführt werden. Es wird zur Eile getrieben (zumeist ausgehend vom Begleiter Vergil in Inferno und Purgatorio), es kann Entschleunigung wirken wie im 4. Gesang des Purgatorio, in dem Dantes verstorbener Freund Belaqua (Duccio di Bonavia) die Lässigkeit und den Müßiggang verkörpert, während im Paradiso Lichtgestalten den irdischen und damit höchst lebendigen Besucher Dante umringen oder umtanzen. Alles, wenn man so will, bleibt im Jenseits auf sehr diesseitige Weise beweglich. Im Kölner Dom ist es aufgrund der memoria, der permanenten Erinnerung in diesem sakralen Gedächtnispalast, umgedreht.
Nun war Dante nie in Köln, zumindest ist darüber aus seiner Zeit im Exil ab 1302 nichts belegt, wiewohl man ihm einen Aufenthalt in Paris nachsagt. [3] Der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt, der im 19. und 20. Jahrhundert u. a. zu den Bau- und Kunstdenkmalen des Königreichs Sachsen forschte, will Dante sogar eben dort verortet wissen und verweist dabei auf die Verbindung der wettinischen Fürsten zu den Ghibellinen, den Anhängern des Kaisers, in Italien um die Wende des 14. Jahrhunderts; so war Markgraf Dietrich III. von Wettin (1260-1307), genannt Diezmann, ein Sohn der Margaretha von Staufen, Tochter Kaiser Friedrichs II. (1194-1250). Auf einer Statue zu Ehren Diezmans in der Dominikaner- und späteren Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig soll eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Messingtafel mit einer Inschrift Dantes angebracht gewesen sein. Zudem erwähnt der Historiker und Chronist Georg Fabricius in seinem Werk „Originum illustrissime stirpis Saxonicae libri septem“ aus dem Jahr 1597 einen Besuch Dantes in Leipzig. [4] Da die genauen Umstände dieses Besuchs nicht aufgeführt werden und die Messingtafel verloren ist, schwebt damit gewissermaßen ein Hauch vom Mythos Dante über der Messestadt.
Eine reale Anwesenheit des Dichters in Leipzig darf zwar ernsthaft bezweifelt werden, andererseits ist über Dantes Leben, mehr noch über den Zeitraum vom Beginn seines Exils bis zu seinem Tod in Ravenna 1321, relativ wenig bekannt. Viel Raum für Spekulationen, die sich dabei auftun. So begegnet uns in der „Commedia“ auch immer wieder die Ambivalenz zwischen dem reisenden Dichter Dante und dem historischen Dante. Was zwangsläufig zu der Frage führt: Wer war die reale Person hinter den Versen? Ein Gelehrter? Ein Träumer? Ein Poet? Ein aufstrebender Politiker in seiner Heimatstadt Florenz? Ein zweifelnder Gläubiger? Ein Liebender? Ein gezwungen Rastloser? Ein rachsüchtiger Zyniker, der in seiner „Commedia“ Gottes Stellvertreter mimt, indem er die Auswahl derer bestimmt, die in Inferno, Purgatorio und Paradiso gefoltert werden, Buße tun oder den Glanz des himmlischen Lichts erblicken dürfen? Ein Schauender, der hinter das dringen wollte, von dem es sehr viel später bei Johann Wolfgang Goethe im „Faust I“ heißt: „Dass ich erkenne, was die Welt/im Innersten zusammenhält“?
Die Herausforderungen beginnen bereits beim Namen; Dante da Alighiero de Bellincione d’Alighiero, Dantes Alagherius, Durante Alaghieri/Aldighieri. Kurt Leonhard zufolge finden sich in den Codices achtzehn verschiedene Namensvarianten. „Die Schreibweise Alighieri wurde erst durch Boccaccio eingeführt“. [5] Die zeitgenössischen Überlieferungen sind, wie bereits erwähnt, äußerst lückenhaft, so dass eine Rekonstruktion von Dantes Biografie häufig über seine literarischen Zeugnisse erfolgen muss. Dies betrifft u. a. Geburtstag und Geburtsjahr, wobei sich das Jahr etwas eindeutiger bestimmen lässt.
Der Beginn der „Commedia“ liefert folgenden Anhaltspunkt: „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald, da ich vom rechten Wege abgekommen“ (Übersetzung Hertz). Für die als normal angenommene Lebensspanne galt zu Dantes Zeit das biblische Alter von 70 Jahren. Demnach war der Dichter zu Beginn seiner imaginären Reise 35 Jahre alt. Ferner wird im 21. Gesang des Inferno der Hinweis gegeben, dass zur Todesstunde von Christus die Erde gebebt habe und dieses Ereignis nunmehr 1266 Jahre zurückliege. Da Christus zum Zeitpunkt seines Todes 34 Jahre gezählt haben soll, liegt der Beginn der Dante-Reise am Karfreitag des Jahres 1300 (1266 + 34). Rechnet man davon die Lebensmitte ab, ist Dantes Geburtsjahr 1265. Im 23. Inferno-Gesang äußert sich Dante zudem zu seinem Geburtsort wie folgt: „Geboren und aufgewachsen bin ich in der großen Stadt am schönen Arnofluß, und ich bin hier mit dem Körper, den ich immer hatte“ (Übersetzung Flasch). Damit ist zweifellos Florenz gemeint. Im 22. Gesang des Paradiso gibt Dante schließlich den Hinweis, dass er dem Sternbild des Stiers nachgeboren wurde. Demnach muss sein Geburtstag im Sternzeichen Zwillinge zwischen dem 18. Mai und dem 17. Juni angenommen werden. Die Hinweise auf den historischen Dante liegen faktisch wie Puzzleteile in seinen Versen verstreut, und oft scheint nichts wirklich eindeutig in der Uneindeutigkeit, zumindest nicht beim ersten Lesen.
Die „Commedia“ ist definitiv kein Werk, beim dem sich nach der ersten Lektüre sämtliche Fragen in Wohlgefälligkeiten auflösen. Im Gegenteil scheinen Fragen und Zweifel von Gesang zu Gesang und Jenseitsreich zu Jenseitsreich weiter zuzunehmen, und das nicht nur für den Dichter, sondern auch für den Rezipienten. Vor allem die historischen Personen, denen Dante begegnet, erfordern die begleitende Lektüre eines historischen Lexikons. Waren für Dante und seine Zeitgenossen Namen, Rang und so manche eingeschriebene Anspielung schlüssig, muss der heutige Leser recherchieren oder auf die Kommentare der Übersetzer vertrauen. Hierbei sei die dreibändige Arbeit von Hartmut Köhler erwähnt, der nicht nur eine sehr poetische Prosaübersetzung des italienischen Originals vorgelegt, sondern die Gesänge auch relativ umfassend kommentiert hat.
Doch wie muss man sie sich nun vorstellen, die historische Zeit, in der Dante, der aus kleinadligen Verhältnissen stammte, hineingeboren wurde? Spontan fiel mir darauf seltsamerweise der Beginn von Charles Dickens‘ „Eine Geschichte aus zwei Städten“ ein: „Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.“
Wir wissen aus den historischen Zeugnissen, dass Dante bereits im Alter von 12 Jahren mit der aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Gemma Di Manetto Donati verheiratet worden ist. Drei Söhne sind aus der Verbindung bekannt sowie eine Tochter, die als Schwester Beatrice den Schleier nahm. Dante widmete sich darüber hinaus dem Studium (u. a. der Schriften von Boethius, Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Aristoteles, Cicero, Vergil) und nahm 1289 an der Schlacht von Campaldino gegen die ghibellinischen Aretiner (Arezzo) sowie an der Belagerung der pisanischen Festung Caprona teil. Beide Ereignisse werden im Inferno erwähnt (Gesänge 21 und 22). Italien war zu dieser Zeit ein politischer Flickenteppich von untereinander konkurrierenden Städten, Familien und politischen Fraktionen. Letzterer Konflikt drückte sich vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen den Ghibellinen (Kaisertreuen) und Guelfen (Papsttreuen) aus, wobei die Grenzen in realis bei weitem nicht immer eindeutig abgesteckt waren. So konnten auch die Guelfen kaiserliche Interessen unterstützen, wenn es ihnen nützte. In Florenz spaltete sich die Guelfen-Partei um 1300 zudem auf in „die Weißen“ (kaiserfreundlich und auf Kompromisse ausgerichtet) und „die Schwarzen“ (rigoros antikaiserliche Politik). 1295 trat Dante der Zunft der Ärzte und Apotheker bei, 1300 gehörte er dem Rat der Prioren an. 1301 reiste Dante, der zu dieser Zeit die weißen Guelfen unterstützte, mit einer Gesandtschaft nach Rom zu Papst Bonifatius VIII. Es ging u. a. um die Abwehr eines von Bankherren initiierten Versuches, Florenz an den Papst zu verkaufen. [6] Während der Verhandlungen kam es in der Stadt zu einer Machtübernahme der schwarzen Guelfen. Verbannungen und Todesurteile wurden ausgesprochen. Auch Dante war davon betroffen. Im Jahr 1302 wurde er, immer noch von Florenz abwesend, zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Es war der Bruch, der sein Leben in zwei Hälften teilte und ihn fortan zu einer Existenz zwang, die von stetiger Unsicherheit und der Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer bestimmt war.
Unter diesen Eindrücken und Entbehrungen entsteht die „Commedia“, sie ist Dantes Exil-Werk, das er erst kurz vor seinem Tod beendet. Der dunkle Wald, in den sich der Dichter in den ersten Zeilen des Werkes versetzt sieht, ohne dass erklärt wäre, woher er ursprünglich kommt oder was genau sein Ziel ist, steht als symbolische Grenze für die beiden Leben des Dante; ein Leben vor und nach der Verbannung, aber auch ein irdisches und ein poetisches Leben und manchmal, wenn man an seiner Seite durch die Verse streift, ist nicht einmal sicher, ob es die poetische oder die irdische Seele ist, die nach Hoffnung, Überwindung oder Erlösung sucht. Dante wagt den Schritt ins Imaginäre und trachtet dabei danach, sich einzureihen in die Schar der großen Dichter wie Homer, Vergil, Horaz oder Ovid. Eine Hybris, der er sich im Purgatorio denn auch selber schuldig bekennt.
Kühn wirkt Dantes Ansinnen, doch mit der Kühnheit schleicht immer wieder der Zweifel einher und man kann in der „Commedia“ durchaus auch eine verbitterte Abrechnung mit seinen politischen Widersachern lesen. Aber die Schrift allein darauf zu reduzieren, wäre bei weitem zu kurz gegriffen. Denn Dante hat seinem Hauptwerk nicht allein auf enzyklopädische Weise das im Spätmittelalter bekannte respektive das allmählich neu entdeckt werdende antike Wissen sowie die Philosophie und die Historie seiner Zeit eingeschrieben, sondern auch das Jenseits neu imaginiert; eine Imagination mit Vorbildwirkung, und das nicht nur für Literatur und Kunst. Durchdrungen wird die Wanderung, welche das Dichter-Ich nicht allein bestreitet (in der Abfolge der Reise sind ihm der römische Dichter Vergil, die allegorisierte Beatrice und der heilige Bernhard von Clairvaux zur Seite gestellt) von zwei grundlegenden Antrieben: Liebe und Erkenntnis ist was ihn leitet, was es zu erschauen, zu begreifen und zu erfahren gilt.
Vor allem das Fegefeuer, das in seiner Feuermetapher zwar antike Wurzeln kennt, aber allein eine hochmittelalterliche theologische und philosophische Erfindung ist, verdankt Dante einen großen Teil seiner Berechtigung als gleichwertiger Jenseitsort zwischen Hölle und Himmel. Das Purgatorio der „Commedia“ „ist der erhabene Schluss der langen Entstehungsgeschichte des Fegefeuers. Es ist darüber hinaus unter den möglichen und teils auch miteinander konkurrierenden Bildern vom Fegefeuer, die die Kirche dem Geschmack und der Phantasie der Christen zur Auswahl überließ, während sie gleichzeitig am Grunddogma festhielt, die edelste aller Darstellungen, die ein menschlicher Kopf erdachte. [7] Angelegt ist dieses denn auch nicht als unterirdischer Bereich, sondern als Berg. Im unteren Bereich müssen die Seelen auf den Einlass warten, was jeweils abhängig davon ist, wann der Zeitpunkt war, als sie bereuten und somit ihre Sündhaftigkeit akzeptierten und sich diese bewusst machten. Auf sieben Terrassen erfolgt die Reinigung von Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Maßlosigkeit und Wollust. Als Lebender erhält Dantes lyrisches Ich denn auch sieben P (peccatum = Sünde) vom Wächterengel am Eingang des Berges auf die Stirn gezeichnet. Die Male verschwinden mit dem Aufstieg. Und immer, wenn eine verstorbene Seele sich vollständig gereinigt hat, bebt der Berg so heftig, dass es scheint, er wollte einstürzen. Auch Dante muss sich im 27. Gesang des Purgatorio dem Feuer stellen: „Und ich […] wurde totenbleich wie einer, der lebend begraben werden soll. Mit verschränkten Händen vor dem Leib beugte ich mich vor, starrte in Feuer und stellte mir die Menschenleiber vor, die ich schon hatte brennen sehen.“ Erst durch den Zuspruch seines Begleiters Vergil und bestärkt durch die Aussicht, seine nun vom himmlischen Glanz umstrahlte (Jugend-) Liebe Beatrice wiederzusehen, wagt er sich hinein. „Sobald ich drinnen war, hätte ich mich in flüssig-kochendes Glas geworfen, mich abzukühlen, so ohne Maß war hier die Hitze.“ (Übersetzung Flasch) Die Reinigung gelingt trotz des noch immer fleischlichen Körpers, und Dante gelangt in das irdische Paradies. Eine Stelle, die Angst und Trost zugleich wachruft. Vor allem in Bezug auf die Ungewissheit nach dem irdischen Tod.
Dante hat in der „Commedia“ nicht nur seine Vision des Jenseits mit all seinen Qualen, Schrecken, Hindernissen und Glücksmomenten beschrieben, sondern damit auch ein literarisches Experiment gewagt. So verfasste er sein Werk im „volgare“ (d.h. in der damaligen italienischen Volkssprache) und nicht in Latein, der etablierten Kommentarsprache, oder in Provenzalisch, der Sprache der Dichtung; damit haftet dem Poem etwas Innovatives und zugleich Trotziges an. „Rebellisch“ kam mir zudem als Ausdruck in den Sinn, doch bedenkt man die Ängste und Zweifel und Ohnmachten, die das Dichter-Ich während der Reise empfindet, wäre diese Bezeichnung doch ein wenig zu übertrieben dramatisch.
Was man aus der historischen Rückschau dennoch konstatieren kann: Dantes (erfolgreiches) Experiment ist nicht nur ein Kind seiner Zeit, es durchschaut auch eben diese Zeit. Nicht nur hat der Dichter sein Exil in mehreren Vorhersagen eingearbeitet und somit rückwirkend vorausgedeutet (u. a. im 17. Paradiesgesang mit seinem Ahnherrn Cacciaguida), er geht auch in mehreren Gesängen hart und bitter mit Florenz und dem Papsttum sowie der Machtpolitik der italienischen Städte und Familien ins Gericht. Dantes Zeit ist eine Zeit der sich allmählich in Wellen auftürmenden Krisen, die schließlich in das 14. Jahrhundert mit kleiner Eiszeit, Pest, Schisma und Kriegen (u. a. der sogenannte Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England) münden.
Nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. im Jahr 1250 hat das Interregnum das Reich und die zum Reich gehörenden Teile Italiens politisch und gesellschaftlich destabilisiert. Mit Bonifatius VIII. (Benedetto Caetani, 1235-1303) verschärften sich zudem die päpstlichen Machtansprüche. Den Höhepunkt bildete die Bulle „Unam sanctam“ (1302/1303), durch welche der Pontifex nunmehr einen universellen, weltlichen wie auch geistlichen Herrschaftsanspruch erhob und dabei u. a. für sich in Anspruch nahm, die Verfehlungen weltlicher Herrscher zu korrigieren. Seiner Meinung nach stand er über allen Regenten und war nur noch gegenüber Gott zur Rechenschaft verpflichtet. Vorausgegangen war diesem Anspruch der zähe Streit mit dem französischen König Philipp IV. dem Schönen (1268-1314), der sich an der Besteuerung des Klerus entzündete und Bonifatius, dem der Mediävist Tilmann Schmidt weder eine religiöse Natur noch theologische Tiefe attestierte, besonders herausforderte. „Durch seine an Menschenverachtung grenzende Schroffheit und Herrschsucht, durch Habgier und anstößige Begünstigung seiner Familie schuf Bonifatius sich Feinde.“ [8] Obwohl Bonifatius VIII. nur indirekt in der „Commedia“ auftritt, ist sein Schatten doch immer dann präsent, wenn Dante seine kirchenkritischen Anmerkungen formuliert. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so häufig, ergeht es Philipp dem Schönen. Der 20. Gesang des Purgatorio, wo Dante zudem Hugo Capet, den Stammvater der französischen Kapetingerdynastie sich selbst als Fleischer von Paris beschreiben lässt, hat laut Franziska Meier dazu beitragen, dass sich Rezeption, Übersetzung und Verbreitung der „Commedia“ in Frankreich lange Zeit arg in Grenzen hielten. [9]
Viele weiterer Beispiele ließen sich für das historische Urteil heranziehen, welches Dante seiner Zeit ausstellt. Und es ist kein sehr freudvolles Urteil, auch wenn immer wieder – vor allem im Rückblick auf die Vergangenheit – so etwas wie Wehmut an die gute alte Zeit aufblitzt. Dante als Nostalgiker? Ich würde behaupten, er ist eher ein Suchender. Am schönsten drückt er dies im 26. Gesang des Inferno aus, auch bekannt als Odysseus-Gesang. Der legendäre, vom griechischen Dichter Homer beschriebene König von Ithaka ist eine der wenigen mythischen Figuren der „Commedia“, und wie kein anderer erzählt dieser – dessen Nachklang auch in Purgatorio und Paradiso widerhallt, der in Gestalt nahezu unkenntlich von Flammen umgeben ist und mit dem bekannten Odysseus nicht viel gemeinsam hat als die Umrisse der eben bekannten Geschichte – von Drängen und Unrast, von Sehnsucht und Scheitern, Erinnerung und Reue. Und vielleicht ist Dante an eben dieser Stelle im Mythischen dem Menschlichen am Nächsten.
„Nachdem ich mich getrennt hatte von Kirke, die länger als ein Jahr mich an sich zog dort bei Gaeta, bevor Aeneas der Stadt diesen Namen gab, da konnten weder die Süßigkeit meines kleinen Sohns noch die Pietät für den alten Vater, noch die Liebe, die ich, sie heiter zu machen, Penelope schuldete, die Glut besiegen, die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert. Sondern ich segelte hinaus aufs hohe offene Meer mit einem einzigen Boot und mit der kleinen Schar, die mich nie im Stich ließ. […] Ich und die Gefährten, wir waren alt geworden und zögernd, als wir zu dem engen Durchlaß kamen, wo Herkules seine Warnung gesetzt hat, daß der Mensch nicht weitergehe. […] ‚O Brüder‘, sagte ich, ’nun seid ihr durch hunderttausend Gefahren zum Westen gelangt, verweigert doch nicht der, ach, so kurzen Nachtwache unserer Sinne, die uns noch bleibt, die Erfahrung der Rückseite der Sonne, der Welt ohne Menschen. Schaut auf euern Ursprung: Ihr seid nicht geschaffen, zu leben wie die Tiere, sondern für richtige Tat und Erkenntnis.‘ Mit dieser kleinen Rede machte ich meine Gefährten so begierig auf die Fahrt, daß ich sie hätte kaum noch zurückhalten können. […] Schon sah ich des Nachts alle Sterne des anderen Pols, und unserer lag so tief, daß er sich über die Meeresfläche nicht mehr erhob. Das Mondlicht war fünfmal neu aufgegangen und erloschen, seit wir die hohe Fahrt begonnen, da erblickten wir einen Berg, in der Entfernung dunkel und so hoch, wie ich noch keinen gesehen hatte. Wir freuten uns, doch bald kam der Jammer, denn von dem neuen Land her brach ein Wirbelsturm los und traf vom Schiff den Bug. Dreimal wirbelte er es herum mit dem Strudel. Beim vierten Mal hob er das Heck und versenkte den Bug, wie Einer es wollte. Bis das Meer sich über uns schloß.“ (Übersetzung Flasch)
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Constance Timm studierte Geschichte, Archivwissenschaften und Germanistik an der Universität Leipzig. Promotion über mediävistische und moderne Erinnerungskultur am Beispiel der Dominikaner- und Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig. Zu ihren weiteren Forschungsschwerpunkten zählen die vergleichende Literatur- und Kulturgeschichte sowie die postmoderne Mythenrezeption.
Anmerkungen:
[1] Leonhard, Dante, S. 10.
[2] Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, S. 409.
[3] Vgl. Stierle, Dante Alighieri, Pos. 531.
[4] Vgl. Timm, Geschichte im Wandel, S. 116.
[5] Vgl. Leonhard, Dante, S. 10, Anm. 2, S. 148 u. S. 160.
[6] Vgl. Bezzola, Dante Alighieri, Sp. 545.
[7] Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, S. 407.
[8] Schmidt, Bonifatius VIII, In: Lexikon des Mittelalters, Sp. 416.
[9] Meier, Dantes Göttliche Komödie. S. 128 ff.
Quellen:
Digitale Dante-Sammlung (Wilhelm Reiners) der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln:
Literaturhinweise:
Charles Dickens. Eine Geschichte aus zwei Städten. Insel Verlag: Berlin 2011.
Constance Timm. Geschichte im Wandel. Das Dominikanerkloster und die Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig. edition vulcanus: Leipzig 2015.
Dante Alighieri. Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch. 3. Aufl. S. Fischer: Frankfurt 2020.
Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Übersetzung Wilhelm Hertz. 12. Aufl. dtv: München 2001.
Franziska Meier. Dantes Göttliche Komödie. Biografie eines Jahrhundertbuchs. C.H.Beck: München 2021.
Hartmut Köhler. La Commedia/Die Göttliche Komödie. Drei Bände Italienisch/Deutsch. Reclam: Stuttgart 2021.
Jaques Le Goff. Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. dtv: München 1990.
Karlheinz Stierle. Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. E-Book. C.H.Beck 2014.
Kurt Flasch. Eine Einladung Dante zu lesen. 2. Aufl. S. Fischer: Frankfurt 2018.
Kurt Leonhard. Dante. Rowohlt: Hamburg 1970.
Reto Raduolf Bezzola. Dante Alighieri. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 3. Metzler: Stuttgart 2000, Sp. 544-546.
The Dante Encyclopedia. Ed. Richard Lansing. London: Routledge 2010.
Tilmann Schmidt. Bonifatius VIII. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2. Metzler: Stuttgart 2000, Sp. 414-416.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Titelbild: Cristofano dell’Altissimo, Dante Alighieri, zw. 1552 und 1568
sehr schöner Rundgang durch Dantes Leben und die Commedia, anhand des eigenen Rundgangs durch den Kölner Dom: da werden Zeiten und Räume verknüpft und dadurch näher gebracht
danke
Elmar Schenkel