Vergessene Götter: Janus, der Gott mit den zwei Gesichtern

Für einen Vergessenen ist er erstaunlich präsent in unserer Gegenwart: Janus (korrekt wäre eigentlich Ianus), der römische Gott mit den zwei Gesichtern, deren eines nach hinten sieht. Der Januar, der erste Monat des Jahres, ist nach ihm benannt – er stand in seinem Zeichen, wie auch der erste Tag eines jeden folgenden Monats. Es denkt bloß kaum noch jemand bei dem Wort „Januar“ an ihn. Auch, dass die Sitte, am Neujahrstag einander Glück zu wünschen, sich bruchlos vom alten Rom herschreibt, ist wohl nur noch wenigen bewusst, ebenso wie die römisch-lateinische Herkunft unserer Monatsnamen. Allenfalls Ausdrücke wie Januskopf bzw. Janusgesicht und die entsprechenden Adjektive sind noch gebräuchlich, um die Zwiespältigkeit einer Sache oder eines Menschen bildhaft auszudrücken.

Janus war der Gott der Tore und Türen, der Ein- und Ausgänge, und präsidierte über Beginn und Ende. Sein doppelgesichtiges Antlitz war auf vielen Bronzemünzen zu sehen, den sogenannten Janusassen, die aus den Zeiten der Republik stammten, aber auch noch unter den Kaisern im Umlauf waren. Er hatte mehrere Heiligtümer in Rom, deren herausragendes Kennzeichen jeweils die Türen bzw. Torbögen waren. Das wichtigste, ein Torbau, der meist als Heiligtum des Ianus Gemini (des doppelten Janus) oder auch als „porta Ianualis“ (Janustor) bezeichnet wure, stand auf dem Forum Romanum. Der Bau beherbergte eine Statue des Gottes, die Plinius zufolge 2,20 Meter groß gewesen sein soll (vgl. Simon, S. 88) und deren Gesichter nach Osten und Westen schauten. Waren seine Türen, die „geminae Belli portae“ (Doppeltüren des Krieges), geöffnet, herrschte Krieg, waren sie geschlossen, herrschte Frieden im gesamten Römischen Reich. Letzteres kam äußerst selten vor – nach dem römischen Sieg über Karthago im Ersten Punischen Krieg 235 v. Chr., nach dem Sieg des Octavian, des künftigen Kaisers Augustus über seinen Rivalen Antonius in der Seeschlacht bei Actium 31 v. Chr. und dann noch einige wenige Male während der Herrschaft des Augustus und späterer Kaiser.

Immer der Erste …

Janus nahm eine nicht unbedeutende Stellung im römischen Pantheon ein. Bei Opfern wurde er stets zuerst bedacht – mit Gerstenkuchen, Salz  und Weizen –, bevor die anderen Götter ihren Teil bekamen; offenbar, weil Janus es war, der den Zugang zu den Gottheiten gewährleistete, an die die Bittsteller sich wendeten. Das jedenfalls ist die Erklärung, die der römische Dichter Publius Ovidius Naso (43 – 17 v. Chr.) in seiner letzten, unvollendet gebliebenen Dichtung gibt, den Fasti (Festkalender), denen wir wertvolle Informationen über Roms Götterwelt sowie über Feste, Kultpraktiken und Mythen verdanken. (Leider kam er nur bis zum sechsten Buch, bis zum Juni.) Ungleich bekannter sind die Metamorphosen, in denen Ovid, wie er abkürzend genannt wird, einen Großteil der Mythen Griechenlands und Roms meisterhaft zusammengefasst hat und mit denen er über zwei Jahrtausende eine maßgebliche Quelle der Überlieferungen geblieben ist. Aber an seinen Fasti kommt niemand vorbei, der sich mit römischer Religion und den damit verbundenen mythischen Vorstellungen näher befassen will.

Was für ein Gott …

„Was für ein Gott könntest du sein, zweiköpfiger Janus“, heißt es gleich im ersten Buch der Fasti. „Denn einen Gott, der dir gleicht, bietet uns Griechenland nicht!“ (Fasti, 1, 89 f.). Woraufhin Janus persönlich dem von Furcht ergriffenen Dichter erscheint, einen Stab in der rechten und den Schlüssel in der linken Hand, und ihm Auskunft erteilt. Was dann kommt, klingt zunächst freilich sehr nach griechischer Naturphilosophie. „Chaos“ habe der Gott zunächst geheißen, als die vier Elemente – Feuer, Luft, Erde und Wasser – noch unterschiedslos gemischt waren. Nach ihrer Trennung habe er dann seine Gestalt angenommen. Als kleine Erinnerung an den ursprünglichen Zustand freilich sei bei ihm hinten und vorn immer noch dasselbe (Fasti, 1, 103-114). Sein Amt besteht den Fasti zufolge darin, Wächter des Weltalls zu sein, den Frieden auszusenden und den Krieg wegzusperren (Fasti, 1, 115-124) – an anderer Stelle freilich verhindern die geschlossenen Tore, dass der Frieden Rom verlässt, und die geöffneten Tore bedeuten, dass Janus die vom Kampf heimkehrenden Truppen wieder in die Stadt lassen wird (Fasti, 1, 277-281); in der Tat führte Janus auch den Titel Quirinus, was der Name eines Kriegsgottes war, wie James George Frazer im Kommentar seiner Übersetzung der Fasti vermerkt (Fastorum Libri Sex, Bd. 2, S. 104). Mit den Horen, so erklärt der Gott dem Dichter, stehe er vor dem himmlischen Tor, selbst Jupiter erhalte nur durch ihn Eingang und Ausgang (Fasti, 1, 125 f.). Als Grund seines Aussehens, das ihm den Blick in zwei Richtungen zugleich ermöglicht, gibt er dann sein Pförtneramt an (Fasti, 1,125-140).

Frazer verweist auf andere römische Autoren wie Festus oder Verrius Flaccus als Urheber der nach heutigen Begriffen abenteuerlichen Herleitung des Namens „Ianus“ aus dem griechischen chaskein (klaffen), von dem die Bezeichnung „Chaos“ letztlich kommt (vgl. Fastorum Libri Sex, Bd. 2, Kommentar, S. 100). Die gängige Erklärung betont die untrennbare Verbindung von Janus und „ianua“, dem lateinischen Wort für Tür (Simon, S. 89). Frazer hingegen meinte, Janus habe ursprünglich „Dianus“ (von indoeuropäisch „di-“, hell) geheißen und sei ein Himmelsgott gewesen – wie Dyaus und ursprünglich Zeus und Jupiter (Fastorum Libri Sex, Bd. 2, Kommentar, S. 93 f.) –, verehrt von einem Stamm, der im Schmelztiegel Rom letztlich aufgegangen sei. Dabei habe Janus seinen Namen behalten, aber eine andere Funktion bekommen – nämlich als Wächter, der bösen Geistern den Zutritt zu Türen generell verwehren sollte. Zumindest die Wächter-These klingt plausibel. Mit seinen übrigen oben erwähnten Vermutungen hat Frazer wenig Anklang gefunden.

Noch einmal: Zwei Gesichter …

Für die Zwiegesichtigkeit des Janus hatte die Antike mehrere Erklärungen: Sie symbolisiere die Kenntnis von Vergangenem und Künftigem, die Janus als einen Urkönig von Latium (der Gegend um Rom) ausgezeichnet habe (vgl. Fastorum Libri Sex, Bd. 2, Kommentar, S. 122 f.), oder die Freundschaft zwischen dem Stadtgründer Romulus und dem Sabiner-König Tatius, der nach einem Krieg vom Feind zum Mitregenten avancierte (vgl. Fastorum Libri Sex , Bd. 2, Kommentar, S. 125 ff.). Im interkulturellen Vergleich steht Janus mit seiner Zwiegesichtigkeit, die sicher ein archaischer Zug ist, freilich nicht allein. Wächterfiguren mit zwei Gesichtern kannte sowohl die altmesopotamische als auch die ägyptische Kunst. Orientalische Einflüsse mögen auch auf die äußere Gestalt des Janus eingewirkt haben (Simon, S. 98 f.) Die Etrusker, ein bis heute einigermaßen rätselhaftes Volk, das der Landschaft Etrurien nordöstlich von Rom seinen Namen gab, verehrten Culśanś, einen doppelgesichtigen Gott. Dieser war, dem Namen nach zu urteilen, wahrscheinlich auch ein Gott der Türen (auf einem Sarkophag aus Chiusi steht eine Göttin Culśu in der Tür zur Unterwelt). Eine in Cortona gefundene Bronzestatue zeigt ihn als nackten, bartlosen Mann mit Stiefeln, Halsring und Hut – im Unterschied dazu ist Ovids Janus bärtig (Fasti, 1, 259). Sein Kopf mit den zwei Gesichtern erscheint auch auf Büsten aus Tarquinia, Tuscania und Vulci. Zwiegesichtige Wächter kommen auch in anderen Weltgegenden vor. Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert führt Frazer Holzpfähle mit je zwei Gesichtern an den Eingängen zu Dörfern auf Surinam als Beispiele an (Fastorum Libri Sex , Bd. 2, Kommentar, S. 94 f.). Im übrigen sind Wächterfiguren mit nur einem Gesicht in vielen Kulturen bekannt (ebd.).

Geschichten, Geschichten …

Aber wie sieht es mit Mythen aus, mit Geschichten, die über Janus erzählt wurden? Ovid berichtet,  wie Janus den Überfall der Sabiner unter dem oben erwähnten Tatius auf Rom abwehrt: Er lässt an der Stelle, an der er später sein wichtigstes Heiligtum bekommt, durch Schwefel erhitztes Wasser sich ergießen, das die Feinde förmlich wegschwemmt (Fasti, 1, 269-272). In seinen Metamorphosen (14, 778-804) erzählt Ovid die Geschichte freilich etwas anders: Da sind es nahe bei Janus wohnende Nymphen, die auf Bitten der Venus die an sich kalte Quelle zeitweise erhitzen. Selbst bekämpft Janus die Feinde allerdings nicht, anders als sein etruskisches Pendant Culśanś, der auf einem Steinsarkophag aus Tuscania im Kampf mit Gegnern zu sehen ist, die Steine oder Felsbrocken werfen (de Grummond, S. 147 f). Eine andere, vielfach erzählte Sage berichtet, dass Janus, der wie erwähnt ja auch als König von Latium galt und als solcher auf dem mons Ianiculus residierte (einem Hügel am rechten Tiber-Ufer), den von Jupiter-Zeus aus dem Himmel ins Exil geschickten Saturnus aufgenommen habe. Die Römer identifizierten ihren Saturnus mit dem griechischen Kronos, der bekanntlich von seinem Sohn Zeus gestürzt wurde. Mit dem Schiff sei Saturnus nach Italien gekommen, in die Nähe des Janus, wo er das Reich Saturnien (Latium) gründet habe, erfährt Ovid in den Fasti von Janus selbst. Zum Gedächtnis daran trügen alle Janusmünzen auf der Rückseite einen Schiffsbug.

Saturnus und Janus herrschten in einem wahrhaft Goldenen Zeitalter. Menschen und Götter verkehrten noch miteinander, es gab weder Krieg noch Gewalttat (Fasti 1, 233-254). So etwa schildert auch der griechische Dichter Hesiod in seinen Erga (Werke und Tage) das Leben des ersten Menschengeschlechtes, des goldenen, das unter Kronos lebte (Erga 111-126). Sowohl hinter Saturnus als auch hinter Kronos hat man orientalische, vielleicht phönizische Gottheiten vermutet (Simon, S. 194). Eine Idylle freilich scheint die Herrschaft von Kronos oder Saturn nicht durchweg gewesen zu sein: Im Mythos verschlang Kronos seine Kinder, die späteren olympischen Götter, bis ihn sein Sohn Zeus stürzte. Der Name des Saturnus war mit Menschenopfern verbunden (Wiseman, S. 32). Offenbar verkörperte er zugleich die schöne und die schreckliche Seite einer Zeit vor der Zivilisation. Seine Kultstatue in Rom trug Fesseln, die nur einmal im Jahr abgenommen wurden: zu den Saturnalien, die eine Art verkehrte Welt waren, in der die Herren ihre Sklaven bedienten.

Janus, der Erotiker

Aber zurück zu Janus. Wie die meisten Götter scheint auch er ein reges Liebesleben gehabt zu haben, über das wir allerdings nur andeutungsweise unterrichtet sind. Vorzugsweise waren wohl Nymphen seine Partnerinnen. Antike Autoren erwähnen eine Camasene, die ihm den Krieger Tiberis gebar, nach dem der Tiber seinen Namen führt, eine Venilia, und schließlich Juturna, Tochter des Flussgottes Volturnus, mit der er einen Sohn namens Fons hatte, den Gott des Quellwassers (Wiseman, S. 162). Sein amüsantestes erotisches Abenteuer aber erzählt Ovid im sechsten Buch seiner Fasti. Da ist von einer Nymphe Crane die Rede, die nahe dem Tiber im Hain des Helernus lebt und ihrer Jagdleidenschaft frönt. Ihre zahlreichen Verehrer führt sie erfolgreich an der Nase herum. Jedes Mal macht sie ihnen Versprechungen. Im Freien schäme sie sich, aber sie sollten doch nur schon mal in ihre Grotte gehen, sie käme ja gleich nach. Natürlich tut sie das Gegenteil: Sie versteckt sich im Gebüsch. Das gleiche Spiel will sie auch mit Janus spielen. Aber der hat ja auch hinten Augen. Er sieht, wo sie sich verbirgt, folgt ihr und raubt ihr erfolgreich ihre Jungfräulichkeit. Zur Belohnung für ihre Gunst macht er sie zur Göttin der Türangeln und gibt ihr den Weißdornzweig, mit dem sie künftig Übel von den Türen fernhalten kann. Ihr zu Ehren – sie heißt später Carna – werden am 1. Juni die Carnalien gefeiert (Fasti, 6, 101-130). Nun war Carna, eine Göttin, über die man nahezu nichts weiß, eigentlich für Leber, Herz und andere lebenswichtige Organe des Menschen zuständig. Die Göttin der Türangeln (cardines) hieß hingegen Cardea (Fastorum Libri Sex, Bd. 4, Kommentar, S. 141 f.). Ovid hat da anscheinend etwas verwechselt. Aber so kleinlich wollen wir doch nun wirklich nicht sein …

Ein Beitrag von Christoph Sorger


Literaturhinweise:

de Grummond, Nancy Thomson: Etruscan Myth, Sacred History, and Legend. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2006.

Publius Ovidius Naso: Fastorum Libri Sex – The ‚Fasti‘ of Ovid. Übs., hrsg. und kommentiert von James George Frazer. Cambridge: Cambridge University Press 2015 (Nachdruck der Erstausgabe von 1929).

Publius Ovidius Naso: Fasti – Festkalender Roms. Übs. und hrsg. von Wolfgang Gerlach. München: Heimeran 1960 (Tusculum-Bücherei).

Simon, Erika: Die Götter Roms. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lizenz Hirmer 1990).

Wiseman, T. P.: The Myths of Rome. Exeter: University of Exeter Press 2004.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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