Es sind nicht mehr als einhundert Kilometer von Vilnius nach Kaunas, aber mein Zug braucht mehrere Stunden für die Strecke, bummelt durch die flache Landschaft zwischen Wäldern, Wiesen, Seen und Sümpfen dahin. Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, sehe ich die baltische Landschaft trotzdem, sie ist ein Bernstein zwischen Meereskieseln, stumpf an der Oberfläche, schimmernd im Inneren, fest und weich zugleich. Eingeschlossen im erstarrten Harz wie Insekten liegen behütet die Städte zwischen Meer und Kiefern, zwischen Sümpfen und Sand. Eine ruhige, friedliche Landschaft, schwer vorstellbar, dass sich hier die Heimat des Bösen befinden soll.
Das Rathaus von Kaunas, das Weißer Schwan genannt wird, sieht mit ein wenig Phantasie wirklich wie ein Schwan aus. Denn der Turm ist ein Schwanenhals, fünfstöckig, schneeweiß, dahinter liegt das kompakte Gebäude als Schwanenkörper, es scheint über den Marktplatz zu schwimmen. Ein paar hundert Meter hinter ihm vereinigen sich Neris und Nemunas zum breiten Memelstrom, der gemächlich zum Haff hinunter fließt. Beide Flüsse kommen aus Weißrussland, Nemunas aber legt den weiteren Weg zurück, es sind an die tausend Kilometer von ihrer Quelle bei Minsk bis zur Mündung im Kurischen Haff. Die Neris fließt dafür auf ihrem Weg nach Kaunas durch Vilnius und nimmt dort, zu Füßen des Burgbergs, noch die kleinere Vilnia auf. Der Fluss Nemunas wurde von den Deutschen, die hier lebten, Njemen oder auch Niemen genannt, Memel hieß die Nemunas dann im Unterlauf bis zur Mündung im Haff. Der Name soll sich vom Lettischen memelis für „stiller, langsamer, schweigender“ ableiten. Der Strom hat einem schmalen Landstrich den Namen gegeben, der zwischen Ostpreußen, Polen und Litauen lag. Das Memelland war Heimat des Dichters Johannes Bobrowski, der diese Weltgegend mit dem aus der Antike stammenden Begriff Sarmatien kennzeichnete. An der Memel lebten Russen und Weißrussen, Juden und Deutsche, Polen und Litauer. Das Jiddische, das dem Osten Europas eine Grundmelodie gewesen war, ist hier für immer verstummt. Ihm nachgefolgt ist das Deutsche. Ostpreußen, Litauen, Polen, Weißrussland und das Baltikum: Der sarmatische Teppich war eine Patchworkarbeit, verschiedensprachige Teile aneinandergenäht, manchmal mit groben Stichen, die wenig Rücksicht nahmen auf Gewebe und Muster, dann wieder fein ziseliert, wo eines ins andere ineinanderfloss, als wäre es füreinander gemacht. Die sarmatische Erinnerung ist längst nur noch ein Schatten, der, wo er einmal doch deutlich hervortritt, dennoch nicht zu greifen ist.
Nach Kaunas bin ich gekommen, um das weltweit einzige Museum, das dem Teufel gewidmet ist, zu besuchen. Zu verdanken ist es einem litauischen Maler, Antanas Zmuidzinavicius, der Teufelsdarstellungen aller Art sammelte und seinen Nachlass dem litauischen Staat hinterließ. Diese Leidenschaft für Darstellungen des Bösen hat sich bemerkenswerterweise allerdings nicht in seiner Malerei niedergeschlagen, hier finden sich vielmehr romantische Landschaften der Kurischen Nehrung. Zmuidzinavicius‘ Sammlung ist beachtlich, eine größere Vielfalt teuflischer Gestalten dürfte an keinem anderen Ort der Welt zu finden sein. In der Divina Commedia des Dichters Dante Alighieri wird eine Stadt voller Teufel erwähnt, und im Markus-Evangelium (Mk 5) wird berichtet, dass
das Böse, von Jesus nach seinem Namen befragt, antwortet: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Hier in Kaunas sind es schon mehrere tausend Teufel, die allein das unscheinbare Wohnhaus des Malers in der V. Putvinskio gatvė beherbergt.
Die wenigen Besucher des Museums wirken eingeschüchtert vor der übermächtigen Präsenz des Bösen. Schweigend gehen wir umher, betrachten geschnitzte Figuren, Skulptur und Plastik, Teufel aus Holz, aus Metall und Ton, alemannische Fasnachtsmasken, Puppen und Zeichnungen. Neben litauischer Volkskunst sind hier Teufelsdarstellungen aus aller Welt versammelt. Klassische Teufel mit Klumpfuß, Hörnern und Schwanz begegnen wilden Dämonenfratzen. Ein geflügelter Teufel mit Ziehharmonika spielt zum letzten Tanz auf. Woher kam die obskure Sammelleidenschaft des Malers, der als exzentrisch galt? Ist es eine Erinnerung an das heidnische Litauen, an vorchristliche Zeit, als die Teufel noch zum Alltagsleben der Menschen gehörten, bei Festen wie Hochzeiten und Beerdigungen erschienen, musizierten und mit den Frauen tanzten oder für Bauern ein Feld rodeten? Eine eigene Erinnerung kommt mir in den Sinn. Ich war vor Jahren in Prag und sah einen Mann auf der Karlsbrücke, fast am Ende der Brücke zur Kleinseite hin. Auf seinem Kopf hatte er links und rechts rote hölzerne Hörner mit einem Gummiband befestigt. Wie andere Maler stand er hier, um Zeichnungen oder Gemälde an Touristen zu verkaufen, doch er achtete als einziger nicht auf die Vorübergehenden. Er saß auf einem Campingstuhl und malte. Neben ihm, auf der Brüstung der Brücke lagen Mappen und Stöße seiner Bilder. Hunderte Aquarelle. Er malte ein einziges Motiv, immer wieder. Sein eigenes Gesicht, der Kopf mit den roten Hörnern. Ich sprach ihn an, fragte zuerst auf Deutsch, aber er antwortete nicht. Eine Weile blieb ich bei ihm stehen und sah zu, wie er zeichnete. Why?, fragte ich noch einmal. Nach kurzem Zögern legte er Pinsel und Palette beiseite. Phantasie, sagte er leise und ein wenig hilflos. Dann lächelte er verlegen. Phantasie. Ein zweites Mal sah ich ihn, als ich ein oder zwei Jahre später mit meinem Sohn wieder über die Brücke ging. Der Mann mit den Teufelshörnern saß an seinem alten Platz. Warum macht er das, fragte mein Sohn. Weil er herausfinden will, wer er ist, antwortete ich, oder, weil er schlau ist und weiß, dass sich eine originelle Idee besser verkauft als die üblichen Stadtansichten. Oder, sagte mein Sohn nach kurzem Überlegen, er malt, was er sein möchte.
In den Welterschaffungsmythen der Litauer ist der Teufel, der hier Velnias heisst, vor allem ein Gegenspieler Gottes, der aber auf seine Weise auch an der Schöpfung beteiligt ist. Gott schafft das Gute und Schöne, der Teufel ist für das Schlechte und Hässliche verantwortlich. Allerdings ist dieser Velnias-Teufel nicht absolut böse, eher scheint er eine komische Figur zu sein, dem eine perfekte Schöpfung – im Gegensatz zu Gott – immer wieder misslingt.
Der Teufel teilt sich in Mythen, Märchen und literarischen Darstellungen (denken wir an Herrn Voland und seine illustren Begleiter in Bulgakows Der Meister und Margarita) oft in eine verwirrende Zahl von Unterteufeln auf, die sich diverse Arbeitsbereiche teilen: Ist der eine Experte für Unzucht und Wollust, hat sich der andere auf die Geißelung der in die Hölle Verdammten spezialisiert und der dritte tappt ungeschlacht als unerwünschter Gast in manches Haus. Ist der Teufel im Märchen zwar oftmals eine eher komische Figur – Der Teufel mit den drei goldenen Haaren oder Der Teufel und seine Großmutter) – so ist die klassische Bockgestalt des Teufels mit Huf und Fell wahrscheinlich noch ein schüchterner Hinweis auf die antike Gottheit Pan. Und ein verbindendes Element vom personifizierten Bösen zum Fabelwesen findet sich sogar in den Vorstellungen des Manichäismus: Hier kann der Teufel bei Bedarf fünf verschiedene Gestalten annehmen. Er tritt wahlweise auf als Fisch, Adler, Löwe, Drache und Dämon. Auch zum Thema „Der Teufel als Fabelwesen“ gibt es in der neuzeitlichen Literatur mindestens ein spektakuläres Beispiel: Die schwarze Spinne von J. Gotthelf.
Zu einer der Vitrinen im Museum in Kaunas kehre ich am Ende meines Rundganges noch einmal zurück: Es sind zwei Teufel, in deren Physiognomie Hitler und Stalin deutlich zu erkennen sind. Sie laufen über einen Berg menschlicher Schädel, Stalin folgt auf Hitler, es sieht aus meiner Perspektive fast aus, als hielten sie sich dabei an der Hand. Der schädelbedeckte Boden, über den die beiden tänzeln, ist Litauen im 20. Jahrhundert. Auf deutsche Okkupation und die Ermordung der litauischen Juden folgte die sowjetische Okkupation und mit ihr die Deportation zehntausender Litauer nach Sibirien.
Ein Beitrag von Jörg Jacob
Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer, war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, sowie ein aktueller Romanauszug in Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Wunderbar erzählt… Besten Dank…?
Ich habe diese Beschreibung mit großer Interesse gelesen. Der Teufel, in welcher Form auch, lebt mit uns zusammen, ist immer anwesend, wird meistens von Anderen in uns erweckt. Siehe zu: Auch über den Teufel kann man schön schreiben. Hat er aber das verdient? Wenn es ihm gelungen ist unsere Neugier zu erwecken nach Kaunas zu fahren, dann ja!
Viele Grüße von einer Teufelin !?