Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,
da unsere geplante Grusel-Wusel-Lesung für Klein und Groß im Leipziger Budde-Haus aufgrund der aktuellen Einschränkungen leider entfällt, folgt anbei die Premiere der Gespenstererzählung, die der Anglist und Schriftsteller Elmar Schenkel für Halloween 2020 geschrieben hat.
Viel Spaß beim Lesen und Gruseln wünscht Ihnen
Das Team vom MYTHO-Blog
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Tagsüber glaubte natürlich keiner an Gespenster. Die Sonne schien und alles war klar. Gespenster gab es nicht. Punkt. Aber wenn dann abends die Dunkelheit langsam in das alte Haus kroch und es zu knistern und zu knarren begann… wenn es so dunkel wurde, im Herbst, machten sich die Kinder Gedanken. Zuerst hörte es sich an, als ob ein Floh auf Zehenspitzen gehen würde. Dann ein Flüstern in der Stille, denn sie horchten nun genau hin. Oder auch merkwürdige Schritte, so dass Johannes einmal sagte: Da geht wohl ein Huhn mit Stiefeln oder was? Oder ein Geschiebe von Gegenständen. Da schiebt wohl einer Langeweile… ! Und sie lachten darüber und machten sich lustig.
Am liebsten erschreckten sie sich gegenseitig. Huuh, ich bin das Gespenst vom Dachboden! flüsterte Laura ihrem Bruder ins Ohr. Nein, huuh, das bin doch ich! rief dann erschrocken der kleine Johannes. Ein bisschen Angst hatte er schon. Wenn es dunkel war, wollte er nicht mehr auf den Dachboden steigen. Laura lachte bloß, sie war ja älter, aber alleine ging sie auch nicht die Leiter hoch. Da oben war natürlich kein Gespenst, aber deswegen musste man ja nicht extra dorthin hochsteigen …
Und irgendwie hatten die Kinder recht. Sie wohnten in einer Villa, dem berühmten Budde-Haus in Gohlis. Dort oben im Dachgeschoss wohnte nämlich tatsächlich ein Gespenst. Vor langer Zeit hieß es einmal Herr Trödl, aber jetzt hatte es seinen Namen vergessen. Irgendwie wusste es aber doch, wie es früher hieß, denn es ging liebend gern auf Trödelmärkte. Die anderen Gespenster waren längst in andere Häuser gezogen und ein Handy hatte es auch nicht. Sonst hätte es ja mit ihnen weiter Kontakt halten können. Als Gespenst legte Herr Trödl Wert auf Tradition. Ein Handy, ein Radio oder eine elektrische Zahnbürste kamen ihm nicht ins Haus! Es war ein Gespenst, das etwas auf sich hielt, ein Gentleman. Es hatte zwar keine Zähne, aber es putzte sie sich trotzdem morgens und abends, aber niemals mit einer elektrischen Zahnbürste! Aber hört: als es noch ein Mensch war, hatte Herr Trödl den Beruf eines Elektrikers. Und das konnten die Bewohner in der Villa Budde sehr wohl merken. Wenn sich das Gespenst ärgerte, also wenn man abends unten zu laut feierte oder herumschrie, das mochte es überhaupt nicht. Oder das Scheppern von Tellern, das Bellen von Hunden. Abends wollte es wie jedes anständige Gespenst seine Ruhe haben und sich schlafen legen. Aber bei dem Krach erinnerte es sich an seine Zeit als Elektriker. Und schwupps ging mal das Licht an und aus, der Kronleuchter wackelte, und plötzlich war alles richtig dunkel. Dann irrten die Leute auf den Treppen umher, manche stolperten, Opas hatten Angst, Omas schimpften, die Eltern knipsten im Keller an der Sicherung und die Kinder machten extra huhuhuu! Und Tante Dörte rannte in ihr Zimmer, riss eine Schublade auf und aß drei Schokoladen auf einmal auf.
Aber ansonsten war das Gespenst ganz in Ordnung. Wenn man gelegentlich ein Schieben hörte, sagte der Vater zur Familie: Macht euch keine Sorgen, er schiebt gerade die Bilder hin und her. Auf dem Dachboden, wo das Gespenst seit fast 100 Jahren wohnte, standen und lagen nämlich Bilder, Gemälde herum, alte Schinken, von einem Maler, der dort vor langer Zeit einmal ein Lager für seine Bilder hatte. Als er wegzog, war er zu faul, sie mitzunehmen. Und nun hauste das Gespenst zwischen diesen Bildern. Es war wahrscheinlich das einzige Wesen auf dieser Erde, dass diese komischen Bilder gut fand.
Allerdings gab es da etwas, was den Herrn Trödl trotz dieses ruhigen Lebens in seiner Bilderstube sehr störte. Und das war dieses neue Fest Halloween. War das nun etwas Altmodisches oder etwas Neumodisches? Als es noch Trödl hieß und Elektriker war, gab es so etwas nämlich nicht. Aber heute? Heute zogen die Kinder verkleidet herum und erschreckten die Menschen. Sie verkleideten sich als Gespenster! Als Fledermäuse, Draculas, Skelette oder Vogelscheuchen. Das war eigentlich eine Frechheit, alles so in einen Topf zu werfen und so zu tun, als ob man ein Gespenst wäre. Außerdem wussten sie doch gar nicht, wie Gespenster überhaupt aussahen. Keiner hatte je mit einem Gespenst gesprochen, und trotzdem malten sie sich an wie Monster, machten Krach und Schrecken und wollten dafür noch etwas haben. Trick or Treat! schrien diese Kleinen, was sollte das denn bedeuten? Herr Trödl hatte in seiner Zeit kein Englisch gelernt. Er dachte es heißt so viel wie: Drück und tritt! Oder sie riefen: Süßes oder Saures! Auf jeden Fall wollten sie etwas dafür bekommen. Wenn man den Menschen Angst einjagt, dann rücken sie schnell was raus, damit man weiterzieht. Aber was? Das Gespenst Trödl war schlicht und einfach neugierig.
Und so kam es auf einen Gedanken. Wie wäre es, wenn ich mich selbst mal als Gespenst verkleide und mit den Kindern mitziehe an solch einem Halloween-Tag? Dann wüsste ich, was die eigentlich genau machen und was sie bekommen von den Erwachsenen an den Haustüren. Drücken und treten, das kann ich doch auch! Gib ihnen Saures, kein Problem.
Es traf sich nun, dass an diesem Halloween der kleine Johannes krank war; er hatte etwas Fieber und war erkältet. Das Gespenst wanderte nachts durch das Haus. Es schlich sich in das Schlafzimmer der Kinder, um zu sehen, ob sie auch wirklich schliefen. Die Eltern schnarchten sowieso laut vor sich hin wie dicke Elefanten. Ja, die beiden Kinder schliefen! Und da lag auch das Gespensterkleid von Johannes auf dem Stuhl. Es war eine Maske mit Totenkopf und ein weißes Gewand mit einem Skelett darauf. Das Gespenst zog es gleich an und betrachtete sich im Spiegel. Gespenster können sich nämlich nachts sehr gut im Spiegel sehen, auch ohne Licht. Es drehte sich hin und her, Maske auf und Maske ab, und fand sich doch recht passabel. Wenn es die Maske trug, konnte keiner sehen, dass es ein echtes Gespenst war, also ein Gespenst, das sich als Gespenst verkleidete. Da schlug Johannes die Augen auf und als er das Gespenst in seinem eigenen Halloween-Gewand sah, wollte er losschreien. Das Gespenst versteckte sich hinter dem Schrank und wartete, bis Johannes wieder einschlief. Er dachte wohl, er hätte einen Fiebertraum gehabt. Sowas gabs ja sowieso nicht, ein Gespenst als Gespenst als Gespenst als Gespenst…. Und er schlief bei diesem Gedanken, der sich immer wiederholte, endlich ein.
Als Halloween kam, war Johannes immer noch krank. Nein, sagte die Mutter, du darfst nicht mitgehen, dieses Jahr. Vielleicht bringt dir Laura was mit. Wo ist überhaupt dein Gespensterkleid?
Das lag doch gestern noch auf dem Stuhl, sagte Johannes.
Na, lachte die Mutter, vielleicht hat ihn ein Gespenst mitgenommen und es in die Wäsche getan…
Johannes fand das gar nicht komisch, es wurde ihm sogar etwas mulmig, und er wusste nicht warum. Vor allem aber ärgerte er sich, dass er nicht mitziehen konnte an die Häuser. Fünf Freunde waren es, die ordentlich klingelten und ihren Spruch aufsagten und dann mit einer Tüte mit Schokoriegeln, Kinderschokoladen und Bonbons zurückkamen. Da war er nun nicht dabei. Und er wusste, dass die anderen vier alles aufessen würden, ohne ihm etwas abzugeben, so gierig waren diese Vampire!
Die vier Freunde versammelten sich am Abend von Halloween auf dem Parkplatz. Das Gespenst hatte sie schon lange erwartet hinter einem Gebüsch. Als die vier losziehen wollen, sprang es auf den Weg. Halt, hier bin ich! rief es.
Wir dachten, du wärst krank und kommst nicht mit? sagten die anderen.
Oh, mir geht’s schon wieder besser, sagte das Gespenst, ich gehe mit.
Die vier dachten wirklich, der Johannes wäre wieder dabei.
Na toll, sagten sie, dann ziehen wir los.
Ich will euch jetzt nicht erzählen, wie sie an den vielen Häusern an diesem Abend klingelten. Aber soviel schon: dass sie diesmal viel mehr bekamen als früher. Und warum?
Weil das verkleidete Gespenst so richtig erschrecken konnte. Manchmal, wenn die Erwachsenen geizig waren und nichts geben wollten, dann sprang es auf sie zu und ließ einen langgezogenen Heuler los. Da rannten die Alten schnell in ihre Küche und holten eine Pralinenschachtel heraus oder einen Karton mit Haferkeksen. Wenn das nicht half, dann wurde Herr Trödl wieder zum Elektriker und schaltete das Licht im Haus ab. Ihr glaubt nicht, was die dann alles in ihren Schränken fanden, um die fünf wieder loszuwerden: Gummibären, Kartoffelchips vom Tatort, Schokomandeln, Puffreis, Marzipaneier vom letzten Weihnachtsfest, es war der helle Wahnsinn. Und bei ganz geizigen Leuten wurde es noch schlimmer: dann setzte das Gespenst mal für fünf Sekunden seine Maske ab. Da bekamen sogar seine vier Freunde Angst. Denn man sah nun – gar nichts! Keinen Kopf, keine Augen, kein Gesicht, nicht mal so ein blödes Dracula-Gebiss. Nichts. Das beeindruckte sie sehr.
Johannes, du bist echt das beste Halloween-Gespenst, das wir kennen, sagten sie am Schluss. Du bist der Hammer.
Da freute sich unser gespenstiger Herr Trödl. Natürlich bekam er besonders viel von den Süßigkeiten ab. Und da es sich ja nicht gerne die Zähne putzte, schon gar nicht mit einer elektrischen Zahnbürste, stellte es einen großen Korb mit all den schönen Dingen heimlich nachts neben Johannes‘ Bett. Eine Schokolade legte er in die Schublade von Tante Dörte, denn die musste immer voll sein, sonst regte sich die Tante auf. Nur ein paar Kekse nahm es für sich mit. Die konnte es gut ditschen und ohne Zähne essen. Schließlich war der Herr Trödl schon über 100 Jahre alt.
Als Johannes aufwachte und den Korb sah, da war er gleich wieder gesund. Schon eine Schokolade nur anzuschauen, ist sehr nützlich, das sagen auch die Ärzte. Er freute sich, dass die Freunde an ihn gedacht hatten und doch nicht so gierig waren, wie er sich das vorgestellt hatte. Und seine Halloween-Verkleidung lag auch wieder auf dem Stuhl, ordentlich gefaltet. Das Gespenst im Buddehaus aber war zufrieden. Jetzt wusste es, was dieses Halloween eigentlich war und es wusste auch, dass es das gut konnte. Und freute sich schon auf das nächste Jahr.
Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.