Von Ende Juni 1764 bis Mitte Juni 1767, gut 20 Jahre, bevor die Französische Revolution den Absolutismus – das Ancien Régime – hinwegfegte, wurden die am Südabfall des Massif Central gelegene Grafschaft Gévaudan und Teile der nördlich angrenzenden Auvergne von einem Untier heimgesucht, dessen Attacken etwa hundert Menschen zum Opfer fielen, zumeist Kinder, Jugendliche und Frauen. Als La Bête de Gévaudan, die Bestie des Gévaudan, erlangte es sehr bald schreckliche Berühmtheit über die betroffenen Regionen hinaus.
Nach dem Urteil des französischen Historikers Emmanuel Le Roy Ladurie rief es auf nationaler Ebene apokalyptische Ängste nie gekannten Ausmaßes hervor (Smith, S. 11). Man könnte es das erste Medienereignis in der sich vor allem durch Zeitungen damals herausbildenden Öffentlichkeit nennen, dessen Wellen auch in andere europäische Länder und bis in die fernen nordamerikanischen Kolonien Britanniens schwappten. Dass die Zeitungen noch wenig an der Zahl waren und dass ihre Auflagenhöhe nur von einigen hundert bis knapp zehntausend ging, sagt nicht unbedingt etwas über ihre Reichweite aus, denn es gab zumindest in den größeren Städten auch Lesezirkel, und aus den jeweils aktuellen Ausgaben wurde in Cafés und öffentlich zugänglichen Parks auch unentgeltlich vorgelesen. Nicht nur Wohlhabende, die sich ein Abonnement leisten konnten, sondern auch weniger Begüterte und sogar Analphabeten zumindest in großen Städten waren so in der Lage, sich auf dem Laufenden zu halten.
Was die Leser in Frankreich und anderswo den diversen Blättern entnehmen konnten, war in der Tat geeignet, ihnen kalte Schauer das Rückenmark hinab zu jagen. Die Bestie packte ihre Opfer beim Nacken, erwürgte sie und trank ihr Blut, bevor sie ihnen den Kopf vom Rumpf trennte. Sie erhob sich auf die Hinterbeine und fällte ihre Opfer mit den Vorderbeinen. Sie war so begierig auf Menschenblut, dass sie ihre Beute sofort auf der blutgetränkten Erde verschlang. Oder sie fraß bloß einige Innereien, schleppte die Köpfe weg und zerbiss sie wie Nüsse – manche wurden nie gefunden, andere waren wie glattgeschält.
Immer die Ärmsten …
Das Unheil traf eine der ärmsten, unwirtlichsten und am dünnsten besiedelten Gegenden des alten Frankreich. Die alte Grafschaft Gévaudan, die in etwa dem heutigen Departement Lozères entspricht, gehörte zwar zur wohlhabendsten französischen Provinz, zum Languedoc, aber die meisten ihrer damals rund 120.000 Einwohner, die vorzugsweise in kleinen Orten und Weilern über etwa 5.000 km² verteilt lebten, waren chronisch unterernährt. Das nicht selten über tausend Meter ansteigende unwegsame Hochland mit seinen steilen, bewaldeten Berghängen, schroff zutage tretenden Felsklippen, Sümpfen und Wiesen und wenig ertragreichen Ackerböden, mit seinem rauen, eher kalten und niederschlagsreichen Klima erlaubte außer in den Flusstälern nur eine kärgliche Kleinbauernwirtschaft, und von den knappen Erträgen waren noch Abgaben an die Grundherren abzuführen. Die Männer arbeiteten auf den Feldern oder webten grobe Wollstoffe, das Hüten der Schafe, Ziegen und Rinder oblag Kindern, Jugendlichen und Frauen. Dass Wölfe, von denen es viele gab, Nutztiere und mitunter auch die Hirten angriffen, gehörte zu den Risiken, die das Leben so mit sich brachte, und das galt nicht nur für den Gévaudan.
So menschenscheu, wie es das heutige Dogma will, sind Wölfe offenbar nicht unbedingt, wenn der Populationsdruck hoch und das Nahrungsangebot knapp ist. Den Untersuchungen des französischen Historikers Jean-Marc Moriceau zufolge kamen in Frankreich vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert etwa 9000 Menschen durch Wölfe zu Tode, allein von 1743 bis 1756 waren es etwa 100 pro Jahr (a.a.O. S. 13). Vor diesem Hintergrund erregten die ersten drei Attacken, die später der Bestie des Gévaudan zugeschrieben wurden und die sich von Ende Juni bis Ende August 1764 ereigneten, zunächst kein größeres Aufsehen. Als sich aber ab September die tödlichen Vorfälle häuften und an Grausamkeit zunahmen, begann Angst unter der Bevölkerung umzugehen.
Steckbrief eines Monsters
Grundherren waren alarmiert, die Behörden von der regionalen Ebene bis letztlich zum königlichen Hof in Versailles schalteten sich ein. Die Bauern erhielten die Erlaubnis, sich mit Feuerwaffen zu versehen, was ihnen zuvor verboten gewesen war; gegen Raubtiere verteidigten sie sich mit Stangen, an denen Messer bzw. Bajonette befestigt waren. Womit hatte man es hier zu tun, mit mehreren menschenfressenden Wölfen, mit nur einem besonderen Wolf – oder war es überhaupt gar kein Wolf, der hier sein Unwesen trieb?
Nach einer Beschreibung des Hauptmanns Jean-Baptiste Duhamel, der als Chef einer vor Ort stationierten Dragonerkompanie in behördlichem Auftrag zunächst die Jagd auf die Bestie organisierte und der sie sah, ohne sie erlegen zu können, hatte sie die Länge eines Leoparden, die Augen eines Kalbes, die Tatzen eines Bären, die Brust eines Pferdes. Ein Elternteil könne ein Löwe sein, der andere sei unbekannt. Augenzeugenberichte stimmen zumindest in wichtigen Details überein. Das Tier sei größer als ein Wolf, nämlich so groß wie ein Kalb, und vorn deutlich bereiter als hinten, sein Kopf sei flach, das Fell rötlich, es habe einen dunklen Rückenstreifen und sei enorm stark, von großer Gewandtheit, Sprungkraft und Laufleistung.
Andere Züge muten phantastischer an. Es schreie wie ein Esel, sein Anblick sei nicht zu ertragen, es sondere einen scheußlichen Gestank ab, es weiche jedem Stoß der Stangen aus, mit denen sich die Bauern ihm gegenüber zur Wehr setzten. Manche in Zeitungen erschienene Beschreibung scheint nach Art der stillen Post über mehrere Stationen vermittelt und dabei entsprechend verzerrt worden zu sein, bis hin zur Karikatur. Die Bestie könne über Mauern springen, schrieben manche Zeitungen – je weiter entfernt der Erscheinungsort der Zeitung, umso höher wurde die Mauer; ein Londoner Blatt kolportierte sogar, die Bestie sei auf der Flucht vor Verfolgern durch eine Kutsche gesprungen, zum einen Fenster hinein und zum anderen hinaus.
Das Übersinnliche in Sicht …
Viele Bewohner des Gévaudan dürften der Einschätzung eines Leserbriefschreibers zugestimmt haben, wenn es Teufel auf Erden gäbe, dann sei die Bestie einer. Die Landbevölkerung glaubte ohnehin in hohem Maße, hier sei das Übersinnliche im Spiel: Eine Hexe gehe um oder ein Werwolf, also ein Mensch, der sich mit teuflischer Hilfe in einen Wolf verwandeln könne. Dazu passten Berichte, nach denen die Bestie sich auf die Hinterbeine erhob, etwa um durch einen Fluss zu waten – Werwölfe konnten auch halb menschengestaltig gedacht werden – sowie der abscheuliche Gestank und die schrecklich funkelnden Augen, die beide auch als Merkmale von Werwölfen gelten. Und ein – angeblicher – Zeuge wollte sogar gehört haben, wie die Bestie, nachdem sie über eine Hecke gesetzt war, einem verdutzten Bauern sagte, das sei doch ein schöner Sprung für einen Achtzigjährigen gewesen … Der Glaube an Werwölfe war in Frankreich besonders verbreitet – und eine Werwolfsgeschichte war wohl ursprünglich auch das mündlich vor allem in Frankreich und Norditalien verbreitete Märchen gewesen, das in der 1697 erschienenen literarischen Bearbeitung Charles Perraults unter dem Titel Le petit chaperon rouge und vor allem dann in Fassung der Brüder Grimm (1812) als Rotkäppchen weltberühmt geworden ist.
Das Übernatürliche sah auch der Bischof von Mende im Spiele, der qua Amt auch der Graf des Gévaudan war. Im Dezember 1746 ließ er von den Kanzeln seiner Diözese verkünden, die Bestie sei auf göttlichen Ratschluss hin erschienen, um die Sünden der Eltern besonders auf sexuellem Gebiet an ihren Kindern zu strafen. Nur Buße und Bittprozessionen könnten Abhilfe schaffen. Freilich unterstützte er auch handfestere Maßnahmen, nämlich die Jagden, die inzwischen auch mit behördlicher Hilfe in Gang gekommen waren. Er setzte ein Kopfgeld auf die Bestie aus.
Aufgeklärte Monster
Anders als die Bauern des Gévaudan wollten die Gebildeten der Nation und Europas, zu denen auch die Funktionsträger des Ancien Régime gehörten, von Werwölfen und Hexen nichts wissen – immerhin lebte man im Zeitalter der Aufklärung. Aber auch ihnen war die Bestie unheimlich. Duhamel z. B. bekannte, er sei versucht, an das Wirken einer Hexe oder des Teufels persönlich zu denken, wenn er denn dieses nur glauben könnte. Was die Naturwissenschaftler der Zeit für möglich hielten, waren Kreuzungen verschiedener Rassen oder auch vielleicht Monstren, die entgegen allen bekannten Regeln gewissermaßen als Ausnahme entstanden. Häufig wurde die Möglichkeit ins Spiel gebracht, die Bestie könne eine afrikanische Hyäne oder ein anderes aus einer Menagerie ausgebrochenes Raubtier sein, ein Löwe, ein Leopard – oder eben ein Hybrid. Skeptiker und Spötter wie Friedrich Melchior Grimm, der von Paris aus die fürstlichen Höfe Europas durch seine kulturell-gesellschaftliche Korrespondenz mit Neuigkeiten versorgte, der in Paris weilende englische Schriftsteller Horace Walpole (Begründer des Genres der Gothic Novel), Friedrich II. von Preußen oder Immanuel Kant hielten alle Berichte sowieso für aufgebauscht oder gar für Ammenmärchen. Freilich, sie waren weit weg vom Geschehen …
Ende gut, alles gut. Oder?
Vor Ort wurden letztlich von Staats wegen Jagden organisiert, bei denen über hundert Wölfe geschossen wurden – die Bestie war allerdings nicht dabei. Alle Bauern, die sich als Treiber beteiligten, erhielten etwas Geld. Geleitet wurden diese Jagden zunächst Duhamel, der später auf Betreiben des Hofes wegen Erfolglosigkeit durch Vater und Sohn d’Enneval, zwei berühmte Jäger aus der Normandie, ersetzt wurde. Diese beiden freilich machten sich bald durch ihre Arroganz und offenkundige Unfähigkeit sowohl bei den lokalen Funktionsträgern als auch bei den Bauern dermaßen unbeliebt, so dass sie schließlich abberufen wurden. Stattdessen schickte Ludwig XV. seinen „Arkebusenträger“ François Antoine, einen hohen Jagdbeamten, der schließlich im Oktober 1765 während einer Treibjagd bei der Abtei von Les Chazes in der Auvergne in einem dramatischen Showdown mit Hilfe eines aus der Schweiz stammenden Kollegen die Bestie zur Strecke brachte.
Oder so schien es zumindest. Der Kadaver wurde untersucht, präpariert und nach Versailles gebracht, wo er im Vorzimmer der Königin eine Weile zu sehen war. Spötter wie Walpole waren allerdings nur mäßig beeindruckt. Hatte der Chirurg, der die erlegte Bestie untersuchte, auch einige anatomische Merkwürdigkeiten festgestellt, so lautete das allgemeine Urteil doch: ein Wolf. Und man atmete auf. Die gesamte französische Öffentlichkeit hatte Anteil genommen an den dramatischen Ereignissen im Gévaudan. Das von verschiedenen Seiten ausgesetzte Kopfgeld hatte sich zuletzt, vor allem durch den Beitrag des Königs, auf stolze 10.000 Livres belaufen. Helden waren entstanden, vom Staat und den Zeitungen durch Europa bis nach Boston gefeiert und auch materiell belohnt worden.
Der 12jährige Jacques Portefaix z. B., der mit ein paar anderen Kindern die Kühe hütete, als die Bestie urplötzlich auftauchte und sich eines der kleineren Kinder schnappte. Jacques aber hielt seine Gefährten vom Weglaufen ab und startete stattdessen mit ihnen gemeinsam einen Bajonettangriff auf das Tier. Oder die junge Mutter Jeanne Varlet bzw. Jouve (der Name wird verschieden angegeben), die in einem dramatischen Kampf ihren sechsjährigen Sohn buchstäblich aus den Fängen des Monsters riss, als dieses sie und ihre Kinder im heimischen Garten anfiel. Sie sprang ihm zu guterl Letzt auf den Rücken und packte es bei seinen Genitalien. Portefaix und Varlet / Jouve wurden berühmt, Portefaix erhielt auf Staatskosten eine militärische Ausbildung und wurde geadelt, leider starb er dann sehr jung. Antoine, der königliche Arkebusenträger, der die vermeintliche Bestie erlegt hatte und das Kopfgeld kassierte, durfte einen toten Wolf in sein Familienwappen aufnehmen.
Mit Portefaix und Varlet / Jouve war ein neuer Heldentyp kreiert worden: Menschen aus dem Volke, die ungeachtet ihrer bescheidenen Herkunft dank ihres Mutes und ihrer Opferbereitschaft als patriotische Vorbilder dienen konnten. Es war so etwas wie nationale Solidarität entstanden. Die Monarchie hatte durch ihre Maßnahmen letztlich eine Krise gemeistert – angesichts des 1763 endenden Siebenjährigen Krieges, in dem Frankreich mit dem Verlust seiner nordamerikanischen Kolonien an England seine politische Vormachtstellung und viel Prestige eingebüßt hatte und in Anbetracht anderer innenpolitischer Probleme eher ein Showeffekt, aber ein willkommener. Der Vorhang eines Dramas war gefallen.
Aber im Gévaudan ging nach einer Pause von einigen Monaten das Grauen wieder um. Wieder abgerissene Köpfe, dreiste Angriffe, und die Davongekommenen beschrieben wieder ein ungewöhnliches Tier mit schwarzem Rückenstreifen. Wieder baten örtliche Stellen Versailles um Hilfe. Aber Versailles schickte nicht noch einmal einen Beauftragten, der wie ein mythischer Held dem Untier entgegentrete sollte: Versailles sprach nur noch von wilden Tieren im Plural – Wölfen zumeist – und empfahl und förderte eine Bejagung mit Gilftködern. Eine Politik übrigens, die von nun an landesweit verfolgt wurde. Im Gévaudan fühlte man sich allein gelassen und organisierte seine Jagden lokal. Und bei einer solchen Jagd, übrigens auch in der Auvergne, in den Wäldern von La Ténazeyre, erlegte ein gewisser Jean Chastel einen zumindest ungewöhnlichen Wolf, der zwar kleiner war als der von Antoine geschossene, der aber ebensolche anatomische Auffälligkeiten aufwies, zum Beispiel ein ungewöhnlich bewegliches Skelett.
Chastel war ein zwielichtiger Charakter, aber für seine Jagd hatte er sich himmlischen Beistands versichert. Er verwendete selbst gegossene Silberkugeln (gut gegen Werwölfe), die er zuvor in einer Kirche weihen ließ. Nach seinem Abschuss hatte der Spuk tatsächlich ein Ende – die lokale Überlieferung, die hundert Jahre später von einem Geistlichen aufgezeichnet wurde, will wissen, dass das tote Tier nach Versailles gebracht wurde, wo niemand sich damit befassen wollte und der König Chastel sogar beleidigte. Davon steht nichts in offiziellen Akten, es handelt sich eher um eine Gegen-Erinnerung, mit der sich die bäuerliche Gemeinschaft des Gévaudan gegen die verständnislose Außenwelt abgrenzt, vor allem gegenüber den hochnäsigen Fremden aus dem Norden, die nicht einmal den einheimischen Dialekt verstanden. Ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist.
Nachleben einer Bestie
Am Ende des 19. Jahrhunderts begann das Interesse an der Bestie des Gévaudan aufs Neue, nachdem diese Episode zuvor fast vergessen worden war. Zunächst bei lokalen Historikern und Interessierten, letztlich aber auch überregional. Seitdem führt die Bestie ein Nachleben in Historiographie, Belletristik und Kino. Letztlich ist, wenn man die Vorfälle von 1764 bis 1767 nicht auf das Konto eines oder mehrerer Wölfe buchen will (theoretisch könnten ja sowohl Antoine als auch Chastel den jeweils richtigen Wolf erlegt haben) die Identität des Untiers nach wie vor ein Rätsel, an dessen Lösung sich viele versuchen, mitunter mit großem Beifall des Publikums. Dass die Bestie sich so verhielt, wie das Wölfe im Regelfalle nicht tun, ist nicht erst ein Argument heutiger Wolfsschützer.
Robert Louis Stevenson, der 1878, also ein Jahrhundert nach dem Wüten der Bestie, die Cevennen bereiste, deren Berge sich auch durch den Gévaudan ziehen, hätte gerne etwas Aufregendes erlebt, aber, so stellte er ironisch-bedauernd fest: „Leider fliehen Wölfe wie Banditen des Reisenden Pfad (…)“. Die Bestie des Gévaudan dagegen sei etwas ganz Eigenes gewesen, der Napoleon Bonaparte der Wölfe. Napoleon erschütterte Europa. und wenn alle Wölfe so wie die Bestie gewesen wären, hätten sie die Geschichte der Menschheit verändert. (Stevenson, S. 44f) Auch in Christophe Gans‘ Film „Pakt der Wölfe“ (2001), der auch in deutschen Kinos lief, ist die Bestie kein Wolf. Der Film war in Frankreich ein Blockbuster. In ihm steckt hinter dem Wüten der Bestie eine finstere religiöse Verschwörung lokaler Adeliger, die mit Hilfe einer abgerichteten und durch einen Lederpanzer geschützten Hyäne Furcht und Schrecken verbreiten wollen, um das Volk von aufklärerischen Anwandlungen abzuhalten und zu wahrer Frömmigkeit zurückzuführen.
Historiker werden damit zwar wenig anfangen können, denn es gibt keine entsprechenden Indizien. Aber die Vermutung, ein menschlicher Trainer habe irgendein Tier zur Bestie gemacht und gezielt eingesetzt, hat eine gewisse Verbreitung. Im Übrigen ist sie älter als der Film. Schon auf einen Sohn Chastels ist solch ein Verdacht gefallen. Auch ein Serienmörder als Täter ist verschiedentlich ins Spiel gebracht worden, nicht zu reden von ausgefalleneren Kandidaten wie einem außerirdischen Monster oder einem Hemicyon, einem entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren des Bären, der dann freilich mindestens 13 Millionen Jahre auf dem Buckel gehabt haben müsste. Realistischer klingt da schon, was der deutsche Zoologe Karl-Hans Taake vermutet: Es sei ein wohl als Welpe in Afrika gefangener, noch nicht ausgewachsener, zwei oder drei Jahre alter männlicher Löwe gewesen, der vielleicht bei einem Transport in eine Menagerie oder zu einem Jahrmarkt ausgebrochen sei und sich dann in der ihm fremden (Tier-)Welt des Gévaudan habe zurechtfinden müssen, wo wehrlose Kinder eine ideale Beute gewesen seien.
In der Tat, so Taake, würden Aussehen und Angriffsverhalten der Bestie gut zu einem Löwen passen. Oder aber es war, wie der kanadische Wolfsbiologen Ronald D. Lawrence meint, eine Kreuzung aus Wolf und großem Hund. „Derartige Tiere wurden von Bauern zum Schutz vor Wölfen gehalten. Wie moderne Zuchtversuche zeigen, können gemeinsame Nachfahren außerordentlich aggressiv sein und zeigen – anders als ihre wild lebenden Ahnen – wenig Scheu vor Menschen“ (Florian Stark, in: WELT vom 18.06.2017).
Mythische Reflexe
Das Rätsel um die Bestie des Gévaudan wird wohl nie gelöst werden. Aus mythologischer Perspektive ist ohnehin interessanter, wie das Untier wahrgenommen wurde. Denn da kommen mythische Muster ins Spiel. Ganz ersichtlich füllte die Bestie sehr bald die Rolle des Untiers / Ungeheuers / Drachens aus, das die Kräfte des Chaos verkörpert, um nicht zu sagen, die des Bösen, und das von einem Helfen zur Strecke gebracht wird. Dabei überlagerten sich rhetorische Reminiszenzen an antike Vorbilder mit den Mustern, die offenbar in unser aller Unbewussten jederzeit aktivierbar sind. Dass es eines Herkules bedürfe, um die Bestie zu besiegen, so wie Herkules den Nemeischen Löwen oder die Lernäische Hydra bezwungen hatte, konnte man bald in den Zeitungen lesen. Jacques Portefaix war der junge Herakles, der noch in der Wiege zwei Schlangen erwürgte, die Hera ihm in mörderischer Absicht geschickt hatte. Madame Varlet / Jouve war ein so aufopferungsbereites Muster an Mutterliebe wie Andromache oder Klytaimnestra. Oder die Bestie wurde mit jener 37 Meter langen Riesenschlange verglichen, von der antike Autoren erzählten – etwa Plinius im Buch VIII, Abschnitt 37 seiner Naturgeschichte, sie habe in Nordafrika am Flusse Bagrada gelebt, wo sie während des Ersten Punischen Krieges den römischen Feldherren Marcus Atticus Regulus angriff, der sie nur mit einem Katapult töten konnte, da Speere ihre Haut nicht durchdrangen. Diese Art von Mythisierung – Held gegen Kreatur des Chaos – ist offenkundig zutiefst menschlich. Ob sie auch immer der Erkenntnis des Wirklichen dient, steht auf einem anderen Blatt.
Ein Beitrag von Christoph Sorger
Literaturhinweise:
Die Naturgeschichte des Caius Plinius Secundus. Übs. von G.C. Wittstein, hrsg. von Lenelotte Möller und Manuel Vogel. marixverlag, Wiesbaden, 2007.
Smith, J.M.: Monsters of the Gevaudan. The Making of a Beast. Harvard University Press: Cambridge, Massachusetts/London, 2011.
Stevenson, Robert Louis: Reise mit dem Esel durch die Cévennen. Übs. Und hrsg. von Christoph Lenhartz. 3. Aufl. Edition La Colombe: Moers, 2017.
Taake, Hans-Karl: Die Bestie des Gévaudan. Der verheerende Feldzug einer verschleppten Kreatur. Kindle Edition 2015.
Zipes, Jack: The Trials and Tribulations of Little Red Ridinghood. Routledge: New York & London, 1993.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Ein paar Anmerkungen zu diesem lesenswerten Artikel. Träfen Moriceaus Zahlen über Wolfsangriffe auch nur annähernd in dem von ihm dargestellten Ausmaß zu, dann fiele Frankreich hinsichtlich seiner Angriffszahlen im weltweiten Vergleich extrem aus dem Rahmen; man vergleiche dazu den internationalen Report von Linnell et al. über Wolfsangriffe (The Fear of Wolves; 2002). Der Geschichtsprofessor Moriceau zeigt beim Thema Wolf in vielen Fällen nicht die erforderliche kritische Distanz zu Darstellungen in historischen Quellen. Was das „ungewöhnlich bewegliche Skelett“ des von Chastel erschossenen Tieres angeht: Man hatte am 20. Juni 1767 einen am Vortag willkürlich erschossenen Wolf auf dem Obduktionstisch, der Chastel während einer Treibjagd zufällig vor seine (zweifellos mit einer Blei- und nicht Silberkugel geladenen) Muskete gelaufen war. Dieser Wolf sollte nun um jeden Preis als Bestie deklariert werden. Denn man wollte den Fremden aus dem Norden, die sich in Angelegenheiten südlicher Provinzen eingemischt hatten, demonstrieren, dass man mit der lokalen Bedrohung selbst fertig wurde. Angriffszeugen hatten aber immer wieder katzenartige Merkmale der Bestie hervorgehoben; so hieß es, die Bestie sei „wendig wie eine Katze“. Deshalb schrieb man im Obduktionsbericht ohne weitere Erklärung, die Rippen des sezierten Tieres seien „nicht schräg“ angeordnet, sondern so, dass sie dem Tier eine besondere Wendigkeit erlaubten. Eine ungewöhnliche Stellung der Rippen, wäre sie real gewesen, hätte aber keinen Einfluss auf die Beweglichkeit des Tieres gehabt. Die Rippen waren keineswegs das Einzige, das im Autopsiebericht „zurechtgebogen“ wurde.