Von heiligen Wassern und gesponnenen Fäden – Gedanken über das Schicksal

Es ist eine gewaltige, immer-sprudelnde Fontäne aus Wasser inmitten einer Höhle, schlicht, abgelegen, vergessen und blutrot funkelnd, wenn ein Sterblicher in ihr umkommt. Die Macher des Films Sindbads gefährliche Abenteuer aus dem Jahr 1973 (Regie: Gordon Hessler) haben einiges an Effekten auf die Darstellung des Schicksalsbrunnens verwendet, welchen die Reisenden um den legendären Kapitän am Ende ihres vorherbestimmten Weges aufsuchen müssen. Schicksal, Schicksal, Schicksal hat zuvor schon das Allwissende Orakel in seinem Tempel prophezeit. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Die Helden besiegen das Böse im letzten Moment. Dabei wird alles noch einmal in die Waagschale geworfen: Tod und Leben, Liebe und Hoffnung, Mut und Opfer. Ein wunderbarer Film, der mich seit meiner Jugend begleitet. Dem Schicksalsbrunnen wohnt darin eine eigene, unberechenbare und doch wissende Kraft inne, obwohl das Motiv in einer Sindbad-Geschichte überraschen mag. Denn Schicksalsquellen sucht man in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vergeblich. Schon eher wird man dazu in der Nordischen Mythologie fündig. Dort wird der Schicksalsbrunnen meist als Urdabrunnen (Urdbrunnen) bezeichnet. Im Gylfagynning, einem Hauptteil der in Prosa verfassten Snorra-Edda, die auf den isländischen Skalden Snorri Sturluson (1179-1241) zurückgeht, heißt es dazu:

Dies Wasser ist so heilig, dass alle Dinge, die in jene Quelle geraten, so weiß werden wie die Haut, die man Skjall nennt und die innen an der Eierschale sitzt.“ (Kap. 16)

Die Schicksalsquelle ist außerdem die Gerichtsstätte der Götter, befindet sich unter den Wurzeln der Weltenesche Yggdrasil und wird von den Nornen, den Schicksalsfrauen oder Schicksalsschwestern, gehütet. Urd (urðr > Schicksal), Verdandi (verðandi > werdend) und Skuld (skuld > Schuld; das, was sein soll). In dieser Dreiheit offenbart sich die Zeit in Gestalt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

„Davon kommen Frauen,
vielwissende,
Drei aus dem See
dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine,
die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe;
Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,
das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,
das Schicksal verkündend.“
(Völuspa, 19)

Doch was hat es mit dem Schicksal eigentlich auf sich? Das Schicksal oder das Los (Lateinisch: Fatum; Griechisch: Moira), im Islamischen Kismet, bezeichnet die durch Zufälle oder von göttlichen Mächten vorherbestimmten Ereignisse im Leben von Menschen, also quasi das, was wirkt, sich dabei unserer Vorstellung entzieht und durch Willen und Entscheidungen nicht beeinflusst werden kann. Es können Begegnungen mit anderen Menschen sein, die als schicksalhaft empfunden werden, wobei dabei sowohl positive als auch negative Emotionen eine Rolle spielen können. Aber auch der glückliche Ausgang von Prüfungen, der erfolgreiche Abschluss eines Projekts oder das Genesen nach langer Krankheit kann durchaus mit dem Schicksal in Verbindung gebracht werden. „Wo die Zusammenhänge des Geschehens uns fremdartig und rätselhaft anmuten, weil sie augenscheinlich nicht Verwirklichungen von Absichtlichkeit und ihr Sinn uns verschlossen, eine Sinnhaftigkeit nicht auffindbar ist, da erblicken wir in solchen dunklen Verkettungen Schicksal.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 7, Sp. 1045)

Redewendungen wie „das Schicksal meint es gut“, „das Schicksal nahm/nimmt seinen Lauf“ oder auch „der Schicksalsschlag“ sind uns allen geläufig. Dabei ist das Schicksal, wenn auch oft in einen religiösen Kontext eingebettet (aber nicht Teil von Religion per se), an sich unspezifisch und im Grunde auch unpersönlich. Es ist mehr Empfinden, eine Ahnung und sogar der Glaube, dass die Dinge in unserem Leben manchmal eben so wirken, wie sie wirken. Es ist offen für alles und nichts, eine Art Wegbegleiter, der weder verdammt noch Trost spendet und den man, so manche Auffassung, sowohl beeinflussen als auch verändern kann. Natürlich ist es auch möglich, sich dem Schicksal völlig zu überlassen, was als Fatalismus bezeichnet wird. Aber auch der freie Wille kann als Ausdruck des Schicksals verstanden werden. Nach Hegelschem Verständnis ist das Schicksal gar das, was die reine Vernunft trübt. „Das Schicksal ist ein Begriff, der sich einstellt, indem der Mensch seine Existenz als Problem faßt und sich genötigt sieht, seine Widerfahrnisse als Äußerungen einer rätselhaften, nicht wie der Mensch urteilenden und bestimmenden (blinden) Kraft anzusehen, welche entweder an ihm vorbeigeht oder ihn erdrückt oder zerstört oder erhebt.“ (Handwörterbuch, Sp. 1046) Zudem ist das Schicksal nicht an Augenblicke gebunden, auch wenn es häufig in Augenblicken wahrgenommen wird. Schicksal war, ist und bleibt überzeitlich.

Im kulturhistorischen Kontext und der Mythologie finden wir das Schicksal als unausweichliche, durchdringende und bestimmende Kraft. Sogar die Götter sind vor ihm nicht gefeit. Helden ohnehin nicht. Oft versuchen diese verzweifelt dagegen anzukämpfen, um letztendlich doch scheitern zu müssen und damit ihr Schicksal quasi selbst zu vollziehen, so wie beispielsweise Achilles oder Odysseus.

Ähnlich den nordischen Nornen treten in der griechischen Mythologie die Moiren als Schickalsgöttinnen auf (in der römischen Mythologie spricht man von den Parzen). Die Vorstellung von ihnen als Trias stammt dabei aus nachhomerischer Zeit. Man unterscheidet Klotho (Klōthṓ > die Spinnerin), Lachesis (Láchesis > die Zuteilerin) und Atropos (Átropos > die Unabwendbare). Laut Hesiod sind sie die Töchter der Nyx (Nacht). Sie können aber auch Töchter von Gaia und Uranos oder gar des Zeus und der Uranos‘ Tochter Themis sein. Sie haben an allem Anteil (und erscheinen häufig als Göttinnen, die Recht und Hilfe gewähren), und doch bleiben sie faktisch ungreifbar und wie die Nornen überzeitlich, wobei sie im Gegensatz zu den Schicksalsfrauen der Nordischen Mythologie nicht als Beschützerinnen einer heiligen Quelle oder eines Brunnens auftreten. Vielmehr spielt für die Moiren ein doch recht pragmatischer Aspekt (aus menschlicher Sicht) eine Rolle, und zwar die Vorstellung als Begleiterinnen von Geburt bis zum Tod (d.h. vom Beginn des gesponnenen Lebensfadens bis zu dessen unabwendbarer Durchtrennung). Das Motiv des Lebensfadens findet sich aber auch bei den Nornen, etwa wenn sie Helgi, dem Hundingstöter, bei der Geburt die Schicksalsfäden spinnen, wobei hier alle drei gemeinschaftlich das Werk vollbringen.

In alten Zeiten, als Aare sangen,
Heilige Waßer rannen von Himmelsbergen,
Da hatte Helgi, den großherzigen,
Borgild geboren in Bralundr.

Nacht in der Burg war’s. Nornen kamen,
Die dem Edeling das Alter bestimmten.
Sie gaben dem König der Kühnste zu werden,
Aller Fürsten Edelster zu dünken.

Sie schnürten scharf die Schicksalsfäden,
Daß die Burgen brachen in Bralundr.
Goldene Fäden fügten sie weit,
Sie mitten festigend unterm Mondessaal.

Westlich und östlich die Enden bargen sie,
In der Mitte lag des Königs Land.
Einen Faden nordwärts warf Neris Schwester,
Ewig zu halten hieß sie dieß Band.
(Das erste Lied von Helgi dem Hundingstöter)

Moira (griechisch Μοῖρα) meint ursprünglich „Teil“ oder „Anteil“, was sich auf einen Beuteanteil oder eine Herrschaft beziehen konnte oder auch auf die Vorstellung „der konkreten Portion an Leben und Lebensglück, welche der einzelne Mensch bekommt“ (Kleiner Pauly Bd. 3, Sp. 1392). Das „Schicksal“ des einen steht dabei durchaus in Wechselwirkung mit dem „Schicksal“ des anderen. Dabei ist Moira „die dem Individuum von Geburt an zur Seite stehende Macht, weshalb sie häufig mit der Geburtsgöttin Eileithyia [….] zusammengenannt wird“ (Handwörterbuch Bd. 7, Sp. 1050). Moira meint des weiteren eine weltordnende Macht, welche sowohl den Kosmos als auch die Geschicke der Menschen regelt – ein gedachtes Ordnungsprinzip, wobei das Verhältnis zu den griechischen Göttern hier nicht so klar ist wie in der Nordischen Mythologie. Lenkt die Moira die Götter und macht diese quasi zu Vollstreckern des Schicksals oder bestimmen die Götter die Moira, in dem sie diese verändern können?

In der Ilias des Homer erhält der Göttervater Zeus von Athene eine Mahnung im Fall des vorherbestimmten Todes des trojanischen Helden Hektor. „Einen sterblichen Mann, der lang schon dem Schicksal verfallen, / Willst du wieder heraus aus dem tosenden Schlachtentod retten? / Tu es, wir anderen Götter werden nicht alle es loben.“ (Ilias, 16, 441-443) Später dann richtet Zeus vor sich die goldene Waage auf und legt zwei Todeslose hinein, eines ist für Achilles bestimmt, das andere für Hektor, und wiegt. Hektors Schale senkt sich und der Gott Apollon, der ihm bisher in allen Schlachten beigestanden hat, verlässt ihn. (Ilias, 22, 208-213). In diesem Fall ist es also Zeus, der durchaus in der Lage ist, das vorherbestimmte Schicksal der Helden zu verändern, es allerdings am Ende doch nicht tut. Eine Erklärung für dieses „schicksalhafte Schwanken“ unternimmt der Altphilologe Hermann Fränkel indem er meint, dass die Ideen der Vorbestimmung im Grunde fremd und beziehungslos in der geistigen Welt Homers stünde, sodass sie dort einen besonderen Anlass haben müsse. Diesen Grund erblickt er darin, dass Homer an die Überlieferung der Hauptereignisse der Dichtung gebunden gewesen sei, aber doch manchmal einen anderen Ausgang des Geschehens respektive der jeweiligen Episode gewünscht hätte. So sympathisiert Homer (so wie Zeus) eindeutig mit Hektor, wenn er etwa sagt: „und den Göttern ist es immer möglich, auch das Unwahrscheinliche wahr werden zu lassen“ (Ilias, 22, 168-181). Da dieses „Unwahrscheinliche“ nicht eingetreten ist – bekanntlich erlitt Hektor ja durch Achilles den Tod – musste es also eine Macht bzw. eine Instanz geben, die noch darüber steht (Fränkel, S. 63f.)

Finden wir das Schicksal in der Griechischen und Nordischen Mythologie als weibliches Trias-Prinzip realisiert, so ist dies in der Mesopotamischen Mythologie nicht der Fall. Dort begegnet uns Namtaru, dessen sumerischer Name (dnam.tar oder dna-ám-tar) „Schicksal“ bedeutet oder „Er, der alle Schicksal entscheidet“ (lú nam-tar ta-ra), in Gestalt eines der sieben Unterweltgötter. Im altbabylonischen Epos Atraḫasis wird Namtaru sogar als Pestgott bezeichnet. Und noch ein Unterschied fällt in der Mythologie des Alten Orients ins Auge. Im babylonischen Schöpfungsmythos Enūma eliš sowie im Anzu-Mythos ist von den sogenannten Schicksalstafeln (ṭuppi šimāti) die Rede. Diese symbolisieren die Herrschaft über den Kosmos. Bestimmt waren sie jeweils für einen auserwählten Gott (Enlil bei den Sumerern, Marduk bei den Babyloniern und Aššur bei den Assyrern). Laut der Mythen konnten die Schicksalstafeln Dinge in den Urzustand zurückverwandeln und verliehen dem Träger Macht über andere Götter, d.h. sie galten als Garant der göttlichen Weltordnung. Das Mischwesen Anzu (ein Vogel mit Löwenkopf) stahl die Schicksalstafeln und die Götter schlugen viele Schlachten, um sie zurückzuerhalten und die Ordnung wiederherzustellen. Die Tafeln sind auch insofern für die Götter von Bedeutung gewesen, als dass sie die Rituale regelten, was wiederum die Menschen mit einbezog. Sie regelten aber nicht ausdrücklich deren Schicksal.

Sich mit dem Schicksal zu befassen, muss bedeuten, sich vor allem mit Vorstellungen des Schicksalsbegriffs auseinanderzusetzen. Die Thematik ist derart komplexer Natur, dass sich unendlich viele Studien darüber schreiben ließen. Daher soll dieser Text ein erstes vorsichtiges Vorwagen sein. Bezüge zur Philosophie und zu den Orakeln habe ich hierbei ausgespart und werde darauf noch einmal separat zu sprechen kommen.

Auch in der Literatur ist das Schicksal eines der zentralen Motive für das Erzählen. Während ich mich mit den Moiren und den Nornen beschäftigt habe, fiel mir die Fantasy-Triologie Zwölf Wasser der in den Niederlanden lebenden Autorin E.L. Greiff ein. Um die Menschlichkeit zu wahren, müssen die Schicksalsfrauen zu den zwölf Quellen der Menschen reisen, die auch die menschlichen Tugenden symbolisieren. Das Wasser der Quellen droht zu versiegen. Gelingt es, die Quellen zu retten, wird die Menschheit weiter existieren, wenn nicht, wird das Zusammenleben zerfallen. Eine sehr lesenswerte Geschichte, welche die Schicksalsvorstellungen der Mythologie mit philosophischen Aspekten vereint. Besonders das Sprüchlein zu Beginn der Bücher, eine Art prophetischer Leitfaden, ist mir dabei in Erinnerung geblieben. Schicksal eben …

„Zwölf Wasser sollen fließen,
zwölf Quellen sollen sprechen,
vom Werden und Vergehen durch die Zeit.
Zwölf Wasser sollen fließen,
zwölf Quellen sollen stillen
der Menschen Durst nach Menschlichkeit.
So soll es sein, so ist es nicht mehr.
Wasser sinkt. Wasser steht. Wasser schweigt.
Menschlichkeit versiegt, und Bitternis steigt
auf in den Seelen, dunkel und schwer.“

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag: Stuttgart, 2004.

Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd. 3. Metzler: München, 2013.

E.L.Greiff. Zwölf Wasser. Zu den Anfängen. dtv: München, 2012.

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hanns Bächtold-Stäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.). Bd. 7. Walter de Gruyter: Berlin/Leipzig, 1935/1936.

Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. 3. Aufl. Beck: München, 1963.

Karl Simrock: Die Edda, die ältere und jüngere nebst den mythischen Erzählungen der Skalda übersetzt und mit Erläuterungen begleitet. Kindle-Ausgabe, 2014.

John Barclay Burns: The Identity of Death’s First-Born (Job XVIII 13). Vetus Testamentum Nr. 37, Bd. 3, 1987, S. 362–364.

Mark W. Edwards: fate. In: Homer Encyclopedia. Bd. 1. Margalit Finkelberg (Hrsg.). Wiley-Blackwell: Chicester, 2011, S. 286 f.

Mark W. Edwards: moira. In: Homer Encyclopedia. Bd. 3. Margalit Finkelberg (Hrsg.). Wiley-Blackwell: Chicester, 2011, S. 526f.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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