„Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 Zentimeter hoch. Mit der oben gerade abgeschnittenen blauen Perücke, die auf halber Höhe noch ein umgelegtes Band hat. Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.“ (Tyldesley, S. 140)
Die Sätze, die der deutsche Ägyptologe Ludwig Borchardt in seinem Grabungstagebuch von 1912/13 notierte, klingen präzise und nüchtern angesichts der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einen der bedeutendsten Funde der ägyptischen Amarna-Zeit zu entdecken. Natürlich war er sich zu diesem Zeitpunkt des Hypes, den der mit bemaltem Gips überzogene Kalkstein im christlichen Abendland auslösen sollte, nicht bewusst. Ein Hype, der bis heute nichts an Intensität verloren hat und Künstler, Bewunderer und Schönheitsfetischisten gleichermaßen in seinen Bann schlägt.
Ist man im Neuen Museum von Berlin zu Gast, hat man das Gefühl, die ganze Welt sei gekommen, um Nofretete, der Großen Königlichen Gemahlin, ihre Aufwartung zu machen. „Die Schöne ist gekommen“ – Neferet-iti. Der Name ist auf passende und fast schon schicksalhafte Weise Programm.
Die britische Ägyptologin Joyce Tyldesley hat – ausgehend von einer schon in früher Jugend geprägten Faszination für Nofretete – ein ebenso faszinierendes Sachbuch verfasst. Die 2018 bei Profile Books London erschienene Abhandlung wurde vom Reclam Verlag Stuttgart 2019 in deutscher Sprache aufgelegt. Der Übersetzerin, Ingrid Rein, gelingt es darin, Tyldesleys spannenden, niemals ins Fachsimpeln verfallenden Erzählstil erfrischend lebendig einzufangen. Auf diese Weise hat der Leser das Gefühl, während der Lektüre selber teilzuhaben an der Entdeckung der Büste, an ihrem vermutlichen Entstehungsprozess durch den Künstler Thutmosis sowie ihrer Reise von Ägypten nach Berlin.
Tyldesley hat ihr Buch in zwei große Kapitel gegliedert. Im ersten Abschnitt erfahren wir die geschichtlichen Hintergründe über die Zeit, in der Nofretete lebte und lesen von der Übersiedlung des ägyptischen Königshofs in die neu angelegte Stadt Amarna, vom Aton-Kult sowie von der Herstellung königlicher Kunst- und Kultobjekte. Dabei bezieht die Autorin die aktuellen Erkenntnisse vergangener und gegenwärtiger Grabungen mit in ihre Überlegungen ein. Zudem verwendet sie Vergleiche zu Referenzobjekten der ägyptischen Kunst, womit es ihr gelingt, eine für uns zeitlich und räumlich weit entfernte Epoche vor dem inneren Auge wieder aufleben zu lassen. Im zweiten Teil bringt uns Joyce Tyldesley die Geschichte vom Fund der Nofretete ebenso näher wie den Hype um die Büste bis hin zur heute noch strittigen Rückgabefrage zwischen Ägypten und Deutschland.
Ich möchte im weiteren Verlauf zwei Themen aus dem Buch kurz umreißen, die mich besonders neugierig gemacht haben. Zum einen die historische Nofretete und ihre Rolle im Aton-Kult, zum anderen die außerordentlich spannende, wenn auch im Nachhinein nicht ganz unproblematische „Reise“ der Büste nach Berlin.
Könige der Sonne
Nofretete lebte im 14. vorchristlichen Jahrhundert und war die Hauptgemahlin von Pharao Echnaton aus der 18. Dynastie des Neuen Reiches, das im Allgemeinen in der Zeit zwischen 1550 und 1070 v. Chr. datiert wird. Über die Königin – darauf macht Tyldesley in ihrem Werk des Öfteren aufmerksam – wissen wir im Grunde sehr wenig. Ihre Abstammung gilt als ungesichert. Die Autorin verweist auf die These, der zufolge Nofretete Nicht-Ägypterin gewesen sein soll. Vermehrt ist sie von Archäologen mit Taduhepa, der Tochter von König Tušratta von Mittani (Nordsyrien) in Verbindung gebracht worden. Die eigenen Töchter dem Herrscher eines anderen Reiches zur Frau zu geben, war in der Bronzezeit eine bewährte Tradition und ein probates diplomatisches Mittel. Da überzeugende Beweise hierzu allerdings fehlen, wird angenommen, dass Nofretete aus der ägyptischen Oberschicht stammte. Vermutlich war sie eine Tochter von Eje, eines hohen Hofbeamten Echnatons, der später selbst Pharao wurde. Möglich ist auch, dass sie eine Tochter von Pharao Amenophis III. gewesen ist. Die ägyptischen Pharaonen lebten polygam und besaßen in der Regel einen ganzen Harem, der Ehefrauen, Königinnenwitwen, Töchtern und Enkelinnen umfasste.
Mit Echnaton, der den ägyptischen Thron zunächst unter dem Namen Amenophis IV. bestieg, hatte Nofretete nachweislich sechs Töchter. Ob sie auch die Mutter des späteren Pharaos Tutanchamun, der aufgrund der Entdeckung seines Grabes durch den britischen Ägyptologen Howard Carter 1922 bekannt wurde, gewesen ist, ist indes nicht gesichert. Man weiß, dass Echnaton und Nofretete ihr Privatleben für die Öffentlichkeit abbilden ließen, wobei Söhne des Paares bislang nicht unter den Fundstücken ausgemacht werden konnten. Die öffentliche Inszenierung war Teil einer politischen, gesellschaftlichen und vor allem religiösen Neuorientierung in Ägypten. Nach seinem 4. Regierungsjahr brach Amenophis IV. mit dem Amun-Kult, wahrscheinlich aus Kalkül, um sich von der Priesterkaste unabhängig zu machen, die zu dieser Zeit einen nicht unerheblichen politischen und gesellschaftlichen Einfluss besaß.
Amun war in der ägyptischen Religion der Gott der Fruchtbarkeit und der Winde. In der Zeit vor Echnaton (oft bezeichnet als Vor-Amarna-Zeit) wurde er in menschlicher Gestalt und ausgestattet mit Krone und Stab dargestellt (später mit Menschenkörper und Widderkopf). Zentren seiner Verehrung waren Theben und Karnak. Seine gesamtägyptische Bedeutung drückte sich auch dadurch aus, dass er mit dem Sonnengott Re quasi verschmolzen wurde. Einflüsse des ägyptischen Amun-Kultes finden sich auch im griechischen Pantheon wieder. In der griechischen Kolonie Kyrenaika (östliches Libyen) sowie in Sparta und im griechischen Theben sind Orakelkulte für den Gott Zeus-Ammon belegt.
„Ägypten war immer ein polytheistisches Land gewesen, das bereitwillig neue Mitglieder in sein Pantheon aufnahm. In der späteren 18. Dynastie gab es mindestens tausend Gottheiten, deren Fähigkeit, ihren Namen, ihr Aussehen und sogar ihr Wesen zu verändern, es letztlich unmöglich macht, sie zu zählen. Diese Götter beherrschten das Ägypten der Lebenden und boten jenen, die aufrichtigen Herzens waren, die Chance auf eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tod.“ (Tyldesley, S. 24) Die religiöse Ordnung (auch bekannt als „maat“), in die der Pharao und die Priester eingebunden waren, sollte ein Gleichgewicht zwischen Göttern und Menschen garantieren und damit „isfet“, das Chaos, in Zaum halten.
Echnaton brach mit dieser Tradition, allerdings nicht in dem Sinne, dass er der „maat“ keine Bedeutung mehr beimaß, sondern, dass er Ägypten einem beispiellosen monotheistischen Experiment unterwarf. „Im wortwörtlichen Sinn begann er [Echnaton] die Erinnerung an Amun auszulöschen, indem er dessen Tempel schloss sowie dessen Namen und Bildnis entfernen ließ, wo immer er in offiziellen Kontexten darauf stieß. Die Verfolgung nahm so extreme Ausmaße an, dass während seiner Regierungszeit bedeutende Persönlichkeiten, die […] das Pech hatten, dass in ihrem Namen das Wort Amun vorkam, es für klug hielten, eine neue Identität anzunehmen.“ (Tyldesley, S. 25)
Der Aton (die Sonnenscheibe) sollte die neue religiöse Kraft Ägyptens werden. Dabei repräsentierte dieser Gott nicht die Sonne an sich, sondern vielmehr ihre Kraft und das von ihr ausgehende Licht. „Und da der Aton auch mit den Vorstellungen vom göttlichen Königtum assoziiert wurde, ließ Echnatons Gott zudem die Möglichkeit offen, dass der König und seine engste Familie lebende Götter sein könnten.“ (Tyldesley, S. 21) Das bedeutete einen Bruch mit den bisher gängigen religiösen Traditionen. Demnach konnten Pharaonen, auch wenn sie mit den Göttern kommunizierten, erst nach ihrem Tod ins Göttliche aufsteigen. Unter Echnaton war die Göttlichkeit des Königs schon zu dessen Lebzeiten garantiert, ja für den Kult geradezu notwendig. Angetrieben von seinem neuen Glauben errichtete er mit der Stadt Achetaton (heute Tell-el Amarna oder auch nur Amarna genannt und südlich von Kairo gelegen) ein neues religiöses, aber auch politisches und gesellschaftliches Zentrum. Nach dem Umzug soll Echnaton Amarna bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen haben.
Auch Nofretete nahm, was sich anhand von archäologischen Untersuchungen nachweisen lässt, eine hohe Stellung während der Amarna-Zeit ein. Darstellungen legen nahe, dass sie Echnatons Mitregentin war (wenn auch kleiner dargestellt), denn meist trägt die den sogenannten Uräus (Schlangensymbol) als Zeichen ihrer Königlichkeit. Zudem wird sie sowohl bei kultischen Handlungen als auch bei der Niederschlagung von ägyptischen Feinden gezeigt – ein Privileg, das sonst ausschließlich den Pharaonen zukam. Abbildungen wie ein Berliner Altarbild, das die königliche Familie zeigt, legen sogar den Schluss nahe, Nofretete habe gänzlich die Regierungsgeschäfte geführt, während sich Echnaton verstärkt Religion und kultischen Handlungen zuwandte. Allerdings sind dies, wie Tyldesley immer wieder anmerkt, stets nur Vermutungen. Aufgrund fehlender Referenzobjekte ist es schwierig, Nofretetes Stellung in Amarna eindeutig zu erfassen.
Die Autorin greift zudem Mutmaßungen auf, denen zufolge Nofretete nach Echnatons Tod interimsweise als Pharao Semenchkare Ägypten regierte. Semenchkares Regierungszeit wird in der Regel (mit Abweichungen) zwischen 1338 und 1336 v Chr. angegeben, ist allerdings schwer greifbar und archäologisch kaum nachzuweisen. Zudem scheint sich von Nofretete schon gegen Ende der Regierungszeit Echnatons jegliche Spur zu verlieren, ohne dass bisher Anhaltspunkte über ihren Tod gefunden worden sind. Dies hat zu Spekulationen über eine mögliche Verbannung oder über eine Namensänderung geführt. Wie auch der Ort von Nofretetes Grab muss auch ihr Ende weiter Geheimnis bleiben.
Wesentlich besser informiert sind wir darüber, dass das Experiment Armana so abrupt endete, wie es begonnen hatte. Mit der Regierungszeit Tutanchamuns (geboren als Tutanchaton) rückten Polytheismus und Amun-Kult wieder ins religiöse Zentrum von Ägypten. Amarna, Echnaton und Nofretete fiel das Schicksal der „damnatio memoriae“ (der Verbannung aus der Geschichte) anheim. Erst den neuzeitlichen Ausgrabungen ist es gelungen, Licht in die monotheistischen Jahre Ägyptens zu bringen und diese Zeit ansatzweise zu rekonstruieren. Dass die Büste der Nofretete sich erhalten hat, ist dabei ebenso wundersam wie ihre Überführung nach Berlin.
Der Weg der Königin
Am 6. Dezember 1912 entdeckten Ausgräber der Deutschen Orientgesellschaft unter Leitung des Ägyptologen Ludwig Borchardt die Büste der Königin im Haus des Bildhauer Thutmosis zusammen mit anderen Skulpturen und unfertigen Abbildungen. Im Gegensatz zu anderen Fundstücken befand sich das Stück in bemerkenswert gutem Zustand. Rund einen Monat später, im Januar 1913, trat die Büste ihre Reise nach Deutschland an, wobei ist zunächst in den Besitz von Henri James Simon überging. Simon war nicht nur Unternehmer, sondern auch Kunstmäzen und besaß eine immense Leidenschaft für Archäologie. Er gilt als die treibende Kraft hinter der Deutschen Orientgesellschaft, die 1898 gegründet wurde und finanzierte ab 1911 Borchardts Ausgrabungen in Amarna.
Tyldesleys Beschreibungen der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts sowie des Büsten-Fundes lesen sich wie eine spannende Detektivgeschichte. Im Mittelpunkt steht dabei die sogenannte Fundteilung, welche die Überführung von Nofretete an die Spree erst möglich machte. Verantwortlich dafür war die 1859 vom Franzosen Auguste Mariette gegründete ägyptische Altertümerverwaltung.
„1912 hatten alle nichtägyptischen Inhaber von Grabungsgenehmigungen Anspruch auf einen Anteil an den Funden jeder Grabungskampagne. Diese Fundteilaufteilung oder partage sollte Ägyptens Erbe schützen, indem sie sicherstellte, dass weder einzigartige Stücke noch solche von großem archäologischem oder kommerziellem Wert Ägypten verließen, während sie gleichzeitig jenen, die Ausgrabungen finanzierten, eine handfeste Belohnung für ihre Großzügigkeit zugestand. Infolge dieser Regelung gelangten reihenweise legal erworbene und ordnungsgemäß dokumentierte Antiquitäten außer Landes und in private und öffentliche Sammlungen in Europa und Amerika.“ (Tyldesley, S. 141) Zwei Inspekteure sollten die Fundteilungen überwachen. Zudem besaß der Antikendienst ein Vorverkaufsrecht, welches ihm aufgrund des Altertümergesetzes von 1912 gestattete, „jeden Fund zu akquirieren, gleichgültig, welchem Teil er bei der Fundteilung zugeordnet worden war“. (Tyldesley, S. 145 f.)
Die Ausgräber hatten also nicht allzu viel Hoffnung, die Büste von Nofretete behalten zu dürfen. Die Funde von Borchardts Ausgrabung wurden in zwei Listen vermerkt, wobei die Büste auf Platz 1 der zweiten Liste geführt wurde. Die Fundteilung fand größtenteils anhand von Fotografien statt. Danach erfolgte ein Rundgang durch das „schwach erleuchtete Magazin“ (Tyldesley, S. 145). Es darf angenommen werden, dass die Grabungsleitung die suboptimalen Begutachtungsbedingungen für den zuständigen Inspektor, Gustave Lefebvre, nicht ohne ein gewisses Kalkül inszeniert hat. Allerdings spielte es Borchardt auch in die Hände, dass Lefebrve von Haus aus Papyrologe war und die kunsthistorische Expertise damit nicht zwangsläufig in sein Fachgebiet fiel. Kurzum: Der Fundteilung wurde entsprochen und es wurden keine Ansprüche auf die Liste mit der Nofretete-Büste erhoben oder vom Vorverkaufsrecht Gebrauch gemacht. Damit war der Weg der Königin nach Berlin frei.
1920 ging die Büste durch Schenkung von James Simon an den Vorläufer der heutigen Stiftung Preußischer Kulturbesitz über. Doch dauerte es noch weitere vier Jahre, bis die „bunte Königin“ der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Zahlreiche Diskussionen, die von Fälschung (demnach soll Borchardt die Büste nach der Porträtvorlage seiner Frau in Auftrag gegeben haben) bis hin zur Unrechtmäßigkeit der Erwerbung reichten, verfolgen Nofretete bis heute. Der Bekanntheit der Büste hat dies keinen Abbruch getan. Im Neuen Museum weiß die Königin weiterhin mit ihrer filigranen Schönheit und ihrem geheimnisvollen Lächeln zu begeistern. Kopien von ihr stehen zudem in unzähligen Museen weltweit.
Ein Grund mehr einen Berlin Besuch zu planen oder sich zusammen mit Joyce Tyldesley auf einen 256-seitigen Spaziergang vom Ägypten der Spätbronzezeit bis heute zu begegeben.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
Joyce Tyldesley: Mythos Nofretete. Geschichte einer Ikone. Reclam: Stuttgart, 2019.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Im Louvre hat man das Gefühl, die Besucher sind nur wegen der Mona Lisa gekommen. Daher konnte ich mir ganz allein die Stele von Hammurapi ansehen. Die hat niemanden interessiert.