Schattenlinien in die Gegenwart: Über Joseph Conrad

Joseph Conrad starb vor 100 Jahren, im selben Jahr wie Kafka. Sie könnten sich sogar 1914 am Berliner Anhalter Bahnhof begegnet sein. Welten liegen sie auseinander, Parallelen wird man dennoch finden: Schuld und Angst, die Ankunft des Totalitarismus, die unüberschaubare Welt – auch wenn Conrad seine Figuren auf einem globalen Maßstab zwischen Asien, Europa, Afrika und Amerika ansiedelt. Conrads Werk hat zudem starke mythische Bezüge: der scheiternde Held, das Labyrinth der menschlichen Beziehungen und malayischen Archipele, Verwandlung, Vergötterung und Verrat. Wir bringen zu seinem 100. Todestag am 3. August einen Essay, den Elmar Schenkel schon zu seinem 150. Geburtstag im Jahr 2007 geschrieben hat. Ersichtlich wird, wie hellsichtig Conrad Themen vorweggenommen hat, die uns heute endlos beschäftigen: (Post)Kolonialismus und das Verhältnis Russlands zum Westen.

Ende Juli 1914 besucht der englische Schriftsteller Joseph Conrad nach etwa zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder seine polnische Heimat. Er folgt einer Einladung nach Krakau und nimmt seine Familie mit auf die Reise, die ihn über Hamburg und durch das ungeliebte Deutschland führt. Anzeichen eines Krieges liegen in der Luft, doch viele wollen dies nicht zur Kenntnis nehmen. In Krakau trifft er alte Freunde, vor allem aber zeigt er seinem Sohn einige Orte seiner Kindheit und frühen Jugend. Die Stadt konfrontiert ihn mit schlimmen Erinnerungen: den Tod seines Vater, als Conrad zwölf Jahre alt war; die Mutter Ewa hatte er vier Jahre zuvor schon verloren. Da ist die Erinnerung an eine Beerdigung, bei der der kleine Junge an der Spitze von Tausenden hinter dem Sarg herging; die Erinnerung an eine Zeit bei verschiedenen Familien und Vormündern, aber auch an die ersten Regungen, sich von der Vergangenheit freizumachen. Conrad reflektiert in diesen Tagen eine persönliche und politische Vergangenheit, denn das Schicksal des geteilten Polen, das als Staat nicht mehr existierte, schlägt sich immer auch in den Leben der einzelnen Menschen nieder. Insbesondere tat es dies aber im Leben Conrads, der ursprünglich Józef Teodor Konrad Korzeniowski hieß. Denn sein Vater Apollo Korzeniowski war ein berühmter Freiheitskämpfer, dazu Dichter und Übersetzer.[1] Wegen angeblich aufrührerischer Aktivitäten und Teilnahme am Warschauer Aufstand von 1860 wurde er vom zaristischen Regime mitsamt Familie nach Nordrussland deportiert. Er schrieb glühende Gedichte für die Freiheit und übersetzte unter anderem Victor Hugo und Shakespeare.

Das einzige Kind, 1857 in der Ukraine geboren, erhielt den Namen Konrad in Erinnerung an einen Helden in Mickiewicz’ patriotischen Gedichten „Dziady“ und Konrad Wallenrod.  Das ist die Vergangenheit, die in diesen dichten Tagen ihre Hände nach Joseph Conrad ausstreckt und von Schuld, Scham und Scheitern, von Trauer und Aussichtslosigkeit redet: Nachrichten aus einer traumatischen Welt, die er einst mit siebzehn verlassen hat, um zur See zu gehen. Ein Bibliothekar zeigt ihm noch in der Jagellonischen Bibliothek die Briefe seines Vaters. Am nächsten Tag soll es einen Ausflug auf das Landgut eines Freundes geben, doch da wird die allgemeine Mobilmachung verkündet. Einen Tag später beginnt, was bald der Erste Weltkrieg genannt wird. Für die Conrads bedeutet dies, auf Umwegen so schnell wie möglich nach England zurückzukehren.

An diesen Tagen kreuzen sich intensive Lebenslinien, an denen Conrads Lebenslauf reich ist. Die Wiederbegegnung mit Kindheit und Vergangenheit löst sich auf in einer Explosion, an deren Ende schließlich ein neues unabhängiges Polen stehen wird. Conrad durfte die Realisierung der patriotischen Träume seines Vaters erleben, doch wie anders traten diese ein!

 Conrads Leben enthält drei Überraschungen, die vielleicht auf ein Geheimnis verweisen. Kein anderer Ort in Europa ist weiter vom Meer entfernt, als der Landstrich, in dem er aufwuchs – der Ukraine – , und doch beschloß er in früher Jugend, zur See zu gehen. Sehr zeitig war ihm klar, dass er sich der englischen Nation zugehörig fühlte, und so diente er bald auf englischen Handelsschiffen. Hier die zweite Überraschung: er lernte, Shakespeare und die Zeitungen lesend und mit den Seeleuten redend, Englisch und diese Sprache wurde zu seiner neuen Heimat. Drittens: der Seemann beschloß, Schriftsteller zu werden.

Drei Entwurzelungen gleichsam oder auch drei Schritte einer Selbstverwirklichung gegen alle historischen, geographischen und kulturellen Hindernisse. Eine solche Erfahrung machte ihn besonders sensibel für einen Prozeß, der eine ähnliche Form aufweist: der Globalisierung. Man kann sagen, Joseph Conrad sei der erste Autor, der auf die Globalisierung reagiert hat, eben weil er Elemente dieses Prozesses an sich selbst erfahren hat.

Geographisch gesehen müsste man wohl Jules Verne als den ersten Autor der Globalisierung bezeichnen, hat er doch sämtliche Kontinente mit seinen außergewöhnlichen Abenteuern überzogen. Fragen wir allerdings nach den emotionalen Komplikationen, den politischen Kräften und den moralischen Entscheidungen, ist der englisch schreibende Pole Conrad der erste, der sich dem Problem auf einer tieferen Ebene widmet. Für ihn ist die Geographie nur Schauplatz psychischer, politischer und moralischer Vorgänge, manchmal in abenteuerliches Licht gesetzt, doch ist die exotische Romantik nur eine Leihgabe der Zeit, in der er schrieb.

Die Voraussetzungen liegen in seiner Kindheit, aber das Rätsel bleibt: wie hat er diese Traumata produktiv in Literatur verwandelt? Seine Kunst bestand darin, aus historischen Kontingenzen das Profil der Schattenlinien zu entwickeln, die das gesamte folgende Jahrhundert bis in unsere Tage durchziehen würden. Neben der Globalisierung wäre zu reden von der Frage der historischen und subjektiven Schuld und des Verrats, von den entstehenden multikulturellen Lebensformen und deren Problemen, von Terrorismus und Gewaltphantasie sowie schließlich vom Kolonialismus in allen seinen psychischen und politischen Formen.

 „Die Schattenlinie“ heißt eine Erzählung Conrads aus dem Jahre 1917, geschrieben während des Krieges und seinem Sohn an der französischen Front gewidmet, ein Text, der sein Leben, Schreiben und die zentrale Thematik zusammenfasst. Ein junger Seemann erhält das erste Kommando über ein Schiff, dessen früherer Kapitän im Meer bestattet wurde. Die Schattenlinie ist zunächst der Breitengrad 8° 12’ im Golf von Thailand, an dessen Eingang der exzentrische Kapitän liegt, der auch sein Schiff dem Untergang hatte weihen wollen. Es stellt sich dem neuen Kapitän die Aufgabe, diese Schattenlinie zu überqueren, um auch das Unheil zu überwinden, das diesem Schiff eingewirkt scheint. Denn es wird mehr und mehr zu einem Fliegenden Holländer, einem Geisterschiff, das dem Fluch der Vergangenheit, einem Voodoo-Zauber aus der Tiefe zu unterliegen scheint. Die Schattenlinie in einem weiteren Sinn aber ist die Grenze, die der junge Seemann in die Erfahrung, vor allem mit sich und der durch Krankheit gelähmten Mannschaft, überschreiten muß und die auch Initiation heißt. Da Conrad die Geschichte seinem in Frankreich kämpfenden Sohn widmete, ist die Schattenlinie auch weltgeschichtlich gemeint und ist nun als Erfahrung des Krieges zu verstehen. Es ist notwendig, über die Schattenlinien zu treten, aber ungestraft kommt man nicht über sie hinaus. Jede neue geschichtliche Phase wird von der Schuld geprägt, die geschichtliches Fortkommen als Fortschritt immer bedeutet, als Unterdrückung und Verdrängung, als Durchsetzen des Stärkeren oder Klügeren, als gebrochenes Versprechen oder Verrat – eine Erkenntnis, die sich der Lebenserfahrung ebenso verdankt wie dem Darwinismus und die Conrad in immer neuen Variationen und mit allen moralischen Implikationen auszusprechen wagte.

 Das Wesen der Schattenlinie ist ihr undurchsichtiger Charakter, denn sobald man in sie eintritt, wird man sie als Grauzone wahrnehmen, in der Bewegungen und Ergebnisse nicht mehr voraussagbar sind. Solange man sich auf sie zubewegt, mag man sich mit Voreinstellungen und Ideologien zufrieden geben. In ihrem Wirkungsfeld jedoch versagen Ideologeme und Philosophien, Lebensweisheiten wie Maximen. Hier schillert das Hypnotische, die Faszination wie der Verfall, das Fieber und die Halluzination. Man ist im abenteuerlichen Zentrum des Herzens, das für Conrad das Herz der Finsternis ist. Eine breite Schattenlinie zeichnet er in seinem Roman mit diesem Titel, der im Jahre 1898 erschien und bis heute sein bekanntestes Werk ist: Herz der Finsternis (Heart of Darkness).

Die Tatsache, dass dieser Titel inzwischen sprichwörtlichen Charakter hat, deutet darauf hin, dass er tatsächlich in das Herz getroffen hat, in die Mitte der Moderne, in die anthropologische Schattenseite, die ihr unweigerlich zugeordnet ist. Etwa zur gleichen Zeit drangen andere Pioniere in diese Finsternis vor und gaben ihr unterschiedliche Namen: Unbehagen an der Zivilisation, Sprachverlust, Degeneration, Rückfall in die Barbarei. Conrad war einer der ersten Autoren, die den Kolonialismus als System der Unterdrückung und Menschenverachtung geißelten. Dabei, und das macht ihn zu unserem Zeitgenossen, lässt sich die Grenze zwischen den Guten und Bösen nicht mehr ziehen, ebenso wenig wie jene zwischen uns und den anderen, denn es sind oft nur banale Zufälle, die uns auf diese oder die andere Seite stellen.

Das Herz der Finsternis spricht vor allem als Stimme zu uns, als Stimme eines Seemanns namens Marlow, der von einem Kommando erzählt, das er einmal auf dem Kongo hatte. Erzählt wird auf einem anderen Fluß, der Themse, und beide Flüsse sind wie die Menschen zutiefst verwandt und miteinander verstrickt: die Wildnis ist nicht nur im Dschungel, sie kehrt auch in den Städten des Westens wieder. Marlow wird bei seiner Fahrt Zeuge eines ruchlosen Kolonialismus, der den Afrikanern Knochen bricht und Hände und Köpfe abschneidet, ganze Dörfer in Flammen aufgehen lässt und die Träger tot ausspuckt, wenn sie nicht mehr tragen können. Alles dies, um den Besitzer dieses Landes, einen König im fernen Belgien und seine Chargen, mit Elfenbein zu versorgen; gleichzeitig verbreitet dieser Leopold II. die frohe Nachricht, dass sein „System“ dazu diene, die Fackel der Aufklärung, der Freiheit und Gerechtigkeit in diese dunklen Flecken zu bringen. Marlow erhält den Auftrag, den Chef der Inneren Station an den Stanley Falls, einen gewissen Kurtz, aus dem Dschungel zu holen, da er schwer erkrankt sei. Unterwegs trifft er auf einen Manager, der sein gestärktes Hemd auch in der Wildnis trägt und sorgfältig Zahlen auflistet, auf einen verrückten Russen, der wie ein Harlekin herumspukt, andere Abgerissene, Verlorene und Habgierige. Nach und nach, je mehr er sich ihm nähert, wird Kurtz erschaffen, er wird zu einer hypnotischen Stimme, einem schattenhaften Wesen, einer derart flackernden dämonischen Natur, dass es für Marlow immer schwerer wird, sich davon zu lösen oder zu distanzieren. Kurtz – ein Name, der zudem eine Kurzfassung von Conrads eigentlichem polnischen Namen Korzeniowski andeutet – war die Hoffnung Europas, ein Lichtträger: Journalist, Autor, glühender Rhetoriker, Maler, Komponist, Humanist – ein Renaissancemensch. Doch im Dschungel ist er in die Brüche gegangen, hat sich unaussprechlichen Riten hingegeben und vor allem hat er sich an Macht berauscht. Die Festung des Mannes, der im Dienste der „Gesellschaft zur Unterdrückung wilder Bräuche“ steht, ist umgeben von aufgepfählten Köpfen. In seinem Bericht an die Auftraggeber schreibt er beredt über die Fortschritte der Zivilisation, doch in einer Nachschrift findet sich plötzlich der Satz, handschriftlich eingefügt: „Schlagt sie alle tot, diese Bestien!“ Während Gesellschaft und Ich an glänzenden Fassaden arbeiten, dringt die Barbarei aus dem Unbewussten hervor. Kurtz’ letzter Ausruf ist: „The horror! The horror!“

Als Conrad im Jahre 1890 zum Kongo aufbrach, war in Österreich gerade ein Kind geboren worden, das in vieler Hinsicht zu einem Kurtz werden sollte. Hitlers massenhypnotische Veranstaltungen, der Machtrausch wie auch die künstlerische Ambition, das Wagnerianische wie Operettenhafte, die Mischung aus Heuchelei und Brutalismus sind Komponenten von Persönlichkeiten, die die Katastrophe suchen und in Form eines erweiterten Selbstmordes alle mit sich hineinziehen wollen. Conrad aber zeigt, dass das Herz der Finsternis immer auch das eigene Herz ist, und dass bei der Eindämmung dieser Finsternis genau hier anzufangen ist.

In den siebziger Jahren ist Conrad von dem nigerianischen Autor Chinua Achebe Rassismus vorgeworfen worden wegen der Darstellung der Afrikaner in seinem Roman und wegen der Benutzung Afrikas als Folie für europäische Probleme. Von Jean Paul bis Freud diente Afrika ja immer gerne als Symbol für die Wildnis des Unbewussten, sozusagen als Europas Keller. So wichtig es war, dieses Element herauszustellen, so ist doch Conrads Leistung nur vor dem Hintergrund zeitgenössischer kolonialer Literatur zu ermessen. Und von dieser hebt er sich in weiten Zügen ab, weil er Kolonalismus, Zwangsherrschaft und Arbeitslager, Verlust von Nation, Kultur und Sprache am eigenen Leib erleben musste in seiner Kindheit. Er schrieb in einer Zeit, als die ersten Konzentrationslager auf Kuba und in Südafrika entstanden, auch wenn sie noch nicht den Schrecken der Nazizeit erreichten. Deshalb ist Herz der Finsternis ein Buch geblieben, das immer wieder neu gelesen werden muß, ob unter dem Blickwinkel Kolonialismus, Totalitarismus oder Anthropologie. Nicht zuletzt hat das ein Film gezeigt, der in den 70er Jahren zum Kultobjekt aufstieg: Francis Coppolas Apocalypse Now. Hier wird Conrads Roman auf den Vietnam-Krieg angelegt: Kurtz ist ein amerikanischer Oberst, der im kambodschanischen Grenzgebiet über ein eigenes Territorium ruchlose Macht ausübt und in geheimer Mission von einem Agenten erledigt werden soll. Statt Kolonialismus wird hier der moderne Krieg in seinem Machtrausch gegeißelt, in den noch die moderaten Kämpfer hineingezogen werden. Die Zivilisation wird zur dünnen Firnis, zivile und militärische Ziele werden bei den Klängen von Wagners Walkürenritt bombardiert. Noch unter dem Napalmnebel kommen, in einer makabren Form von Globalisierung, kalifornische Surfer auf ihre Kosten.

Daß der Film Südostasien thematisiert, geht auf weitere Conrad-Vorlagen zurück. Ein guter Teil seiner Romane reflektiert diesen Erdteil, insbesondere aber der Roman Lord Jim. Es ist die Geschichte einer Feigheit, eines Verrats, in dem der junge Romantiker, der Steuermann Jim, ein mit Mekka-Pilgern besetztes Schiff verlässt, als es dem Untergang geweiht scheint. Später scheint ihm, dessen Gewissen zerrissen ist, ein neuer Aufstieg anonym in einer fernen Inselwelt zu gelingen, bevor er wieder von seinem Schicksal heimgesucht wird. Kritiker haben bald erkannt, dass Conrad hier die eigene Scham zum Thema macht, die seine Flucht aus Polen mit sich brachte und die ihm auch von Polen vorgehalten wurde. Scham und der Versuch, ein Leben wieder in Ordnung zu bringen, Schuld, historisch oder privat, zu verarbeiten, eine zweite Chance zu suchen und zu scheitern – auch das ist eine Signatur des 20. Jahrhunderts.

In seinen malayischen Geschichten, wie etwa Almayers Wahn, werden solche Zusammenhänge innerhalb von multiethnischen Lebensformen dargestellt, zumeist als Unmöglichkeit, zu einem ausgeglichenen Zusammenleben zu finden. Der Fremde Almayer bleibt fremd in den Machtstrukturen zwischen englischen, niederländischen Kolonisatoren und arabischen, malayischen und chinesischen Machtträgern. Almayer wird in einem Prozeß der Auflösung beschrieben. Nostromo, der Held des gleichnamigen Romans von 1904, wird zerrieben zwischen den Machtansprüchen und Intrigen eines erfundenen südamerikanischen Staates, der zudem unter nordamerikanischer Hegemonie steht.

Auch dieser illusionslose Blick auf die komplexen Verhältnisse zwischen den Kulturen verdankt sich den Schwierigkeiten des geteilten Polen mit seinen vielen wiederstrebenden Bewegungen und Volksgruppen. Entscheidend ist, dass Conrad jeweils Zugänge zu politischen Verhältnissen über die unterschiedlichen emotionalen Befindlichkeiten findet und Prozesse kultureller Verschmelzung, Ausbeutung wie Konfrontation von innen her beleuchtet.

 In diesem komplexen Amalgam von Interessen und politisch-religiösen Glaubensformen, die globale Ströme mit sich bringen, hat der Terrorismus als scheinbare Lösung eines gordischen Knotens seinen Sitz. In zwei Romanen hat Conrad die geistigen und weltanschaulichen Bedingungen dieser Krankheit, als die er ihn selbst sah, seziert. In Mit den Augen des Westens (1911) lässt er einen englischen Lehrer Vorgänge in Russland erzählen: das Attentat eines Studenten auf einen verhassten Staatsminister und der Verrat durch einen anderen Studenten. Hier nähert sich Conrad einem Autor, den er zeitlebens ächtete: Dostojewski und seinen Dämonen. Die Geschichte von Verrat und Liebe, die Verwicklungen und Verschwörungen innerhalb der russischen Exilgemeinde in Genf, die Conrad im Roman weiter entwickelt, erreichen nicht die metaphysisch-philosophischen Tiefen von Dostojewskis Dämonen. Darin jedoch konnte man auch eine Stärke sehen. Thomas Mann schrieb 1926 das Vorwort zur deutschen Übersetzung von The Secret Agent (Der Geheimagent) und sah in Conrad den verwestlichten ‚Slawen’, der eine Brücke von Ost nach West geschlagen habe, sozusagen eine Vermittlungsleistung für ein neues Europa sozusagen. Thomas Mann projizierte auf Conrad sowohl die eigene als auch die erwünschte deutsche Verlagerung von Ost nach West. Historisch sind diese Beobachtungen sicherlich interessant, doch für Conrad ist die Einstufung als Slawe immer inakzeptabel gewesen. Als Pole sah er sich Westeuropa nicht nur näher als den Slawen, sondern auch als den Deutschen. Frankreich und England waren und sind für Polen kulturell immer nachbarlicher gewesen als das problematische Deutschland. Ganz zu schweigen von den Russen, die bei Conrad aufgrund seiner kindheitlichen Erfahrungen nicht gut wegkommen. Dostojewski ist für ihn der Russe par excellence, bei dem Chaos und Dogma, Revolution und Autokratie sich die Waage halten. Russland bleibt für Conrad ein Moloch, der Demokratie, Individualismus und Freiheit verschlingt wie der biblische Baal die Kinder.

Schon früh hat er sich geistig von diesem Osten entfernt, vor allem durch das Vorbild seines patriotischen und freiheitsliebenden Vaters, aber auch durch Lektüre von Autoren wie Victor Hugo, Charles Dickens, Fenimore Cooper und vor allem Shakespeare, den er auf alle seine Seereisen mitnahm. Die Bücher und das Meer kann man als Antwort auf seine schlimme Kindheit lesen, als Versuch, der geistigen Enge und dem polnischen Unglück, das so sehr mit Russland verknüpft war, zu entkommen. Als er mit vierzehn auf einer Reise durch die Alpen die ersten Engländer beim Bau des Gotthard-Tunnels sah, war er zutiefst beeindruckt. Kurz darauf traf er einen englischen Gentleman am Furca-Pass, der Knickerbocker trug und dessen weiße statuengleiche Waden ihn wieder tief beeindruckten. Das Empire zeigte sich aber nicht nur in Technik und Beinen, sondern auch in der Sprache und in den Schiffen. So führte sein Weg über Frankreich zur britischen Handelsmarine und von den britischen Schiffen zur englischen Sprache. Zwar war er später so gut wie dreisprachig – mit Polnisch, Französisch und Englisch – , doch ist sein Schreiben unauflöslich mit der englischen Sprache verbunden. Auf merkwürdige Weise, so meint er, sei Englisch ihm mitgegeben worden, als ererbte Fähigkeit; und wenn er nicht in Englisch geschrieben hätte, so hätte er überhaupt nicht geschrieben.

Er ist damit einer der ersten in der Reihe von Autoren, die in anderen Sprachen als ihrer Muttersprache schrieben, etwa Vladimir Nabokov oder Samuel Beckett. Mehrsprachigkeit und Sprache als Exil – das sind Phänomene, die Conrad mit der Literatur teilt, die nach ihm kommen sollte. Das Englische steht als Sprache für eine Kultur, in der Conrad sich aufgehoben fühlte, wenngleich er auch immer Gast und Fremder blieb. Als er sich nach langen Seejahren, die ihn zu allen Kontinenten brachten, in Südengland niederließ, gewann er einflussreiche Freunde und Bewunderer von Henry James und H.G. Wells bis hin zu Stephen Crane und Bertrand Russell. Zum eigentlichen intellektuellen Establishment gehörte er dagegen nie. Er lehnte auch die Ritterehre ab, als diese ihm angeboten wurde. Seine englischen Jahre zwangen ihn, sich über allen Idealismus und alle Idealisierung hinaus mit den praktischen und politischen Gegebenheiten eines westlich-liberalen Staates zu beschäftigen. Auch hier sah er den Konflikt von West und Ost heraufziehen. Dies führt uns zu einer weiteren Schattenlinie, die in dem Roman Mit den Augen des Westens schon angedeutet wurde: der Gefährdung der Demokratie durch den Terrorismus.

 Sechzehn Jahre lang, von 1978 bis 1994, wurden die USA durch eine besondere Form von Terroristen bedroht, der mit seinen selbstgebastelten Briefbomben immer die Botschaft hinterließ, wie sehr er den modernen Staat mit seinen Institutionen haßte. Zwei Menschen starben und es gab über zehn Verletzte in diesen Jahren. Theodore Kaczynski, der sogenannte Unabomber, berief sich dabei auf den philosophischen Einsiedler und Transzendentalisten Henry David Thoreau, sich selbst gab er aber, wenn er in Hotels übernachtete, den Decknamen „Conrad“ oder „Konrad“. Für die Medien war dies ein gefundenes Fressen: konnte doch endlich wieder gezeigt werden, dass Literatur nur dann gesellschaftlich relevant ist, wenn sie Schaden anrichtet. FBI-Agenten waren beeindruckt, wie stark Conrads Roman Der Geheimagent mit seiner Thematik von  Anarchismus, Nihilismus, Entmenschlichung und Terror den Begründungen Kaczynskis für seine schlimmen Aktivitäten glich. In der Tat hat Kaczynski den Roman wohl über ein Dutzend Mal gelesen. Doch da die Medien sich zunehmend wie die schlimmsten Fundamentalisten verhalten, das heißt verkürzen, Zusammenhänge zerreißen, Aussagen von Romanfiguren verwörtlichen und insgesamt den Unterschied von Fiktion und Realität nicht kennen, musste Conrads Biograph Frederick Karl ein Machtwort sprechen. Conrad und der Unabomber haben nach Karl nichts gemein, jede Identifikation der beiden beruhe schlichtweg auf einem kompletten Missverstehen dieses Romans und von literarischen Werken überhaupt. Vielmehr habe sich Kaczynski mit einer Figur aus dem Roman identifiziert, die Conrad selbst aber als „Abschaum“ („scum“) gekennzeichnet habe. Es handelt sich bei dieser Figur um einen der Londoner Anarchisten, der unter dem Namen „Professor“ kursiert und sich dadurch auszeichnet, dass er ständig einen Gürtel trägt, der es ihm ermöglicht, binnen weniger Sekunden sich selbst und seine Umgebung in die Luft zu sprengen. Seine Lebensmotivation besteht darin, den perfekten Detonator zu bauen, eine Obsession, die er mit Kaczynski teilt. Dahinter steht bei dem Professor keine Religion oder Politik, sondern einzig der Vernichtungswunsch, der sich aus einer abgrundtiefen Verachtung für die moderne Welt und für die Menschen insgesamt speist. Wie der Hitler der letzten Kriegsmonate hat auch der Professor das Selbstmordattentat als kollektiven Selbstmord vor Augen; wie Kurtz hat er diese Botschaft für die ganze menschliche „Brut“: „Vernichtet sie! Vernichtet sie alle!“. Es gibt noch andere Anarchisten in diesem Roman, die zum Teil revolutionär denken, zum Teil sozialdarwinistisch und damit Vorstufen des Faschismus darstellen. Conrad beschreibt mit großer Kunst das Milieu von Verschwörung und (wohl russischen) Hintermännern, die eine Verunsicherung des liberalen britischen Staates beabsichtigen, um diesen zu schärferen Gesetzen gegen Anarchisten und Revolutionäre zu zwingen – ein Mechanismus, der uns nicht ganz unbekannt ist. Damit hat Conrad überhaupt einen der ersten Romane über Spionage und Gegenspionage vorgelegt. Hitchcock hat ihn 1936 als Sabotage verfilmt und sein Ruhm wuchs in den Zeiten des Kalten Krieges. [2] Der Doppelagent Verloc, der mit Vornamen auch noch Adolf heißt, betreibt einen kleinen schmuddeligen Laden in Soho. Er ist die Marionette in dieser Geschichte, in der Weltpolitik sich katastrophal in einer gesellschaftlichen Nische niederschlägt. Von einer östlichen Botschaft wird er dazu verleitet, einen Bombenanschlag auf ein Symbol von Fortschritt und Moderne zu verüben. Was könnte das Symbol sein, dessen Zerstörung die größte Wirkung haben würde? Nichts Religiöses dürfte es sein, auch nichts Politisches, denn dies ist alles vergänglich, es verkörpert in keiner Weise die Aspirationen der Moderne und wird schnell vergessen. Was verkörpert diese Werte aber eindrucksvoller als Wissenschaft und Technik? Deren vorderste Linie muß getroffen werden, dort wo ihre Flaggen wehen. So wählt man ein Symbol, das nicht nur die Herrschaft von Wissen und Technik über die Erde bedeutet, sondern auch die Globalisierung selbst darstellt. Es ist das Observatorium von Greenwich, auf das tatsächlich im Jahre 1894 ein Attentat versucht worden ist. Greenwich steht für die Seeherrschaft des Empire, aber auch für den Versuch, eine globale Zeitwelt herzustellen. Es sei daran erinnert, dass die heutigen Zeitzonen, die sich auf Greenwich beziehen, auf der Internationalen Zeitkonferenz von Paris 1912 festgelegt wurden, also vier Jahre nach Erscheinen von Conrads Roman. Die Standardisierung der Weltzeit war seit den 1880er Jahren immer wieder Thema von Debatten und Konferenzen. Der Anschlag, den Verloc seinen geistig behinderten Schwager Stevie ausführen lässt, misslingt nicht nur, er zerfetzt auch den unfreiwilligen Attentäter – der von einem der Anarchisten zuvor als degeneriertes, ‚unwertes Leben’ gekennzeichnet worden ist – und stürzt dessen  Schwester samt ihren Gatten Verloc in eine Tragödie, die in Mord und Selbstmord endet.

Die Schattenlinien, die Conrad zwischen Terror und Globalisierung zieht, sind auffällig. Auch wenn er von religiösem Fundamentalismus noch nichts wissen konnte, außer vielleicht bei Dostojewski, trifft er doch zielsicher den schwachen Punkt zwischen Modernisierung und Sicherheitsverlust, den Ort, wo die Ängste wuchern und sich durch Explosionen auszulöschen suchen. Religiös motiviert oder politisch, der Terror zeigt diese Gemeinsamkeit: Wenn Ideologie körperlich wird, sozusagen Türme erbaut, in die sich die Psyche verriegelt, macht sie als kollektive Psychopathologie die Menschen unfähig zur Empathie. Man muß nicht alle Werke Conrads auf seine Kindheit zurückführen, doch war ihm eine Kindheit gegeben, die ihn wie keinen anderen hellsichtig gemacht hat durch Leiden und die Art, dieses kreativ umzugestalten in ein Organ des Fühlens und Sehens. Klassiker, schrieb George Steiner einmal, sind die Werke, die wir zwar immer wieder interpretieren können, die aber eigentlich uns interpretieren. In diesem Sinn hat Joseph Conrad Werke geschrieben, die fortwährend ihren Blick auf uns richten.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Von Elmar Schenkel erschien 2007 die Conrad-Biographie: Fahrt ins Geheimnis – Joseph Conrad. S. Fischer Verlag.

Der vorliegende Artikel ist zuerst erschienen in Merkur 694, Jg. 61, 2007.


Anmerkungen

[1] Jules Verne plante, seinen Kapitän Nemo in Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren, das er 1868 begann, als früheren polnischen Freiheitskämpfer darzustellen, wurde jedoch von seinem Verleger daran gehindert.

[2] Hitchcocks Film The Secret Agent, ebenfalls von 1936, basiert dagegen auf Erzählungen von Somerset Maugham. Gut hundertmal sind Conrads Werke inzwischen verfilmt worden, unter anderem von Orson Welles, Ridley Scott und Andrzej Wajda. Die neueste Filmfassung von The Secret Agent stammt von Christopher Hampton aus dem Jahre 1996, mit Gérard Depardieu als Anarchist Ossipon und Robin Williams als „der Professor“. Die Filmmusik komponierte Philip Glass.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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